Fragen
der russisch-orthodoxen Theologie, dargestellt am Lebenswerk des Berliner
Propstes A.P.Maltzew (1854-1915)
Wilhelm
Kahle
[S. 133] Im Jahre 1886 wurde der Priester Alexej Maltzew zum Pfarrer an der Kirche der Russischen Botschaft zu Berlin und zugleich an der Russisch-Orthodoxen Kirche in Potsdam berufen. In der Stellung eines Propstes übte er von diesem Jahre an seinen Dienst bis 1914 aus. Dann verließ er infolge des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges Deutschland. Er starb im Jahre 1915 in seiner russischen Heimat. In diesen 28 Jahren war der 1854 Geborene der profilierte Vertreter seiner Kirche in der deutschen Hauptstadt. Eine umfangreiche Tätigkeit füllte neben seinen Verpflichtungen als Propst der Berliner und Potsdamer Gemeinde diese Zeit aus. In diesen Jahren entstand sein großes Übersetzungswerk der gottesdienstlichen Formulare der orthodoxen Kirche. Kürzere Aufsätze in der Auseinandersetzung mit Beurteilern und Kritikern seiner Kirche legen ferner von seinem Wirken Zeugnis ab.
Nicht zuletzt ist der Gründung des Bratstvo, der Bruderschaft des Heiligen Wladimir, zu gedenken, die sein ureigenes Werk war. In den Veröffentlichungen dieser Bruderschaft erscheint sie zuweilen in deutschen Texten als Wohltätigkeitsverein zugunsten Durchreisender und in Not geratener Angehöriger der Russisch-Orthodoxen Kirche. Ihre eigentliche Bedeutung ging jedoch über diesen begrenzten diakonischen Auftrag hinaus1). Ankäufe von Grundstücken für Kirchenbauten, die Errichtung von Kapellen und Kirchen in verschiedenen Orten Deutschlands gehörten ebenso zu ihrem Arbeitsbereich. Die Anlage eines zwar weitmaschigen Netzes von Sammlungspunkten der russischen Orthodoxie in jenen Jahren, das die vorhandenen orthodoxen Zentren ergänzte, ist der Rührigkeit des Propstes Maltzew zu verdanken. Dazu gehören die Kapelle und der Friedhof in Tegel, die Kirche in Nauheim, die Kapelle in dem schlesischen Luftkurort Görbersdorf, die Kirchen in Bad Homburg, Bad Kissingen, Bad Brückenau sowie ein gottesdienstlicher Raum in einem von dem Bratstvo erworbenen Haus in Hamburg2). Der Erste Weltkrieg und die nachfolgenden Geschehnisse in Russland wie in Deutschland vernichteten ein größeres, bereitgestelltes Kapital, das für die Errichtung einer zentralen Kathedrale der Russisch-Orthodoxen Kirche [S. 134] in Berlin bestimmt war. Noch heute sichtbarer Ausdruck des diakonischen Werkes der Bruderschaft ist das in Berlin liegende Alexanderheim, das seinerzeit durch den Propst zu Ehren des 1894 verstorbenen Zaren Alexander III. gegründet worden war und ursprünglich Kaiser-Alexander-Heim geheißen hatte. Als das Bestimmende der Tätigkeit des Propstes Maltzew verdient das Werk der Übersetzungen des gesamten Zyklus der orthodoxen Liturgie besondere Beachtung. In 14 Bänden auf 13000 Seiten ausgebreitet, legt es nicht nur Zeugnis von dem Anliegen des Übersetzers selbst ab, sondern auch seiner Kirche, sich anderen verständlich zu machen. Viele Ehrungen drückten die Anerkennung aus, die diese Arbeit Maltzews gefunden hat. So wurde er zum Ehrenmitglied der Geistlichen Akademien St. Petersburg, Moskau und Kasan ernannt, weiterhin zum Ehrenmitglied der Königlich Griechischen Archäologischen Gesellschaft, der Königlich Serbischen St.-Sawa-Gesellschaft, ferner zum wirklichen Mitglied der Kaiserlichen Palästina-Gesellschaft. Maltzew hatte frühzeitig – 1879 – den Grad eines Magisters der Theologie erworben, Ordensverleihungen auch deutscher Fürstenhöfe wurden ihm zuteil. Die Verleihung des Adels war ein weiterer Ausdruck der Anerkennung, die er in seiner Zeit fand.3)
Maltzew hat damit nicht nur im Bereich seiner Berliner und deutschen Umwelt, sondern auch in der Welt der östlichen Orthodoxie eine bedeutsame Würdigung erfahren. Er fand sie nicht nur in dieser, sondern auch in der Welt der katholischen und evangelischen Theologie. Dies fand seinen Ausdruck beispielsweise in den Besprechungen seiner Arbeiten durch Adolf von Harnack und Ferdinand Kattenbusch.4)
Langjährige Vertrautheit mit den westeuropäischen Kirchen und dem kulturellen Bereich Westeuropas formte und bestimmte das Urteil Maltzews. [S. 135] Deshalb gewinnen seine Aussagen im Rahmen anderer orthodoxer Aussagen über fremde Kirchen und deren geistige und religiöse Erscheinungen besonderes Gewicht. Diese seine Aussagen finden sich teilweise als Einleitung zu seinen liturgischen Arbeiten, die häufig den Umfang selbständiger Aufsätze annehmen, ferner in Anmerkungen5), teilweise in apologetischen Schriften, die in der Abwehr gegen die Orthodoxie gerichteter Arbeiten entstanden sind6). Im folgenden seien die liturgischen Werke Maltzews nach dem Erscheinungsjahr genannt:
1) Die göttlichen Liturgien unserer Heiligen Väter Johannes Chrysostomos, Basilios des Großen, Gregorios Dialogos – Deutsch und Slawisch, Berlin 1890; desgl. nur deutsche Ausgabe, Berlin 1894; nur deutsche Ausgabe unter der Bezeichnung Liturgikon = Služebnik, unter Berücksichtigung des beschöflichen Ritus, verbessert und ausführlicher, 1902; nur deutsche Ausgabe, Jubiläumsausgabe als 4. neu revidierte und verbesserte Ausgabe nebst Anlagen, Berlin 1911,
2) Die Nachtwache oder Abend- und Morgengottesdienst, Berlin 1892,
3) Andachtsbuch, Berlin 1895,
4) Bitt-, Dank- und Weihegottesdienst, Berlin 1897,
5) Die Sakramente, Berlin 1898,
6) Begräbnisritus und einige spezielle und altertümliche Gottesdienste, Berlin 1898,
7) Fasten- und Blumen-Triodion nebst den Sonntagsliedern des Oktoichos, Berlin 1899,
8) Menologion I., Berlin 1900,
9) Menologion II., Berlin 1901,
10) Oktoichos oder Parakletike II., Berlin 1904.
Die nachfolgenden Angaben haben es weniger mit der Person des Propstes selbst als vielmehr mit den Voraussetzungen und Zielen seiner Arbeit und den damit verbundenen Fragestellungen zu tun. Bei der Übersicht zeichnen sich folgende Schwerpunkte ab: [S. 136]
1. Die Fragen der Sprache und Übersetzung,
2. Die Selbstmitteilung der Kirche,
3. Die Kritik der Konfessionen und die Wiedervereinigung der Kirchen,
4. Das Problem der Wahrheit und der Kirche
5. Nation und orthodoxe Kirche.
1. Die Fragen der Sprache und Übersetzung
Als Propst Maltzew sein Berliner Amt übernahm, eines der Ämter der Auslandsorthodoxie, zu denen man schon von jeher befähigte Priester zu nehmen pflegte, fand er sich einer ganz besonderen Gemeindesituation gegenüber. Sie war vergleichbar mit der mancher deutscher, evangelischer Auslandsgemeinden. Neben den Angehörigen der Botschaft, die in wechselnder Zeitdauer der Gemeinde angehörten, neben Landsleuten aus dem wirtschaftlichen und kulturellen Lebensbereich, die schon längere Zeit hier ansässig waren, gab es immer eine größere Anzahl von Deutschlandbesuchern, die in Berlin Station machten. Daneben gab es hier eine nicht unerhebliche rumänische, griechische, serbische und bulgarische orthodoxe Diaspora, deren kirchliche Versorgung nicht gesichert war. Ihre Glieder warteten auf den Dienst, der nach Rückhalt und wirtschaftlicher Kraft der russisch-orthodoxen Gemeinde zufiel. Ihre kirchliche Versorgung aber war dadurch erschwert, dass sie des Russischen sowie des gottesdienstlichen Slawischen nicht mächtig waren. So konnte die Sprache des Gastlandes zum Band zwischen den Angehörigen verschiedenster Nationalitäten werden. Eine weitere Besonderheit kam hinzu: Die Bewohner des russischen Viertels Alexandrowka am Pfingstberg bei Potsdam hielten nach wie vor zu ihrer Kirche in ihrer Siedlung. Im Laufe der Generationen aber hatten sie größtenteils die Kenntnis des Russischen und das Verständnis der Gottesdienstsprache eingebüßt. Diese russische Siedlung war im Jahre 1826, aus dem Geist der Heiligen Allianz erwachsen, gegründet worden. Im Blick zumal auf diese Glieder seiner Gemeinden begann Maltzew das Werk der Übersetzungen, deren erster Band im Jahre 1890 erschien. Er behandelte "Die göttlichen Liturgien unserer Heiligen Väter Johannes Chrysostomos, Basilios des Großen und Gregorios Dialogos". Der Vorspruch vermerkt, dass sie in Deutsch und Slawisch unter Berücksichtigung der griechischen Urtexte herausgegeben seien. Im Vorwort – S. V – dieser ersten Arbeit des Übersetzungszyklus sagt Maltzew unter Bezugnahme auf 1 Kor 14,14.16f.19 (7), ein wichtiger "Beweggrund" für die Abfassung seines Werkes sei die Tatsache gewesen, dass er in seiner neuen Gemeinde sehr viele Glieder vorgefunden hatte, "die der gottesdienstlichen Sprache nicht kundig waren". Im Blick auf die erwähnten Glieder der Gemeinde der Siedlung Alexandrowka bemerkt er: "Ich hatte daher gleich anfangs Gelegenheit genommen, die Liturgie und die Sakramente dort in deutscher Sprache zu vollziehen, was nicht verfehlte, die Seelen der Gläubigen mit besonderer Freude zu erfüllen. Die Wahrnehmung dieses Erfolges erweckte in mir den Wunsch, den Mitgliedern der mir anvertrauten kleinen Gemeinde ein Buch in die Hände [S. 137] zu geben, dessen Benutzung in der Kirche und im Hause geeignet wäre, die lebendige Teilnahme derselben an den kirchlichen Gebeten und Gesängen zu erhöhen"8).
Das alles entspricht der in der orthodoxen Kirchengeschichte üblichen Weise, dass das liturgische Gut in der Sprache des jeweiligen Volkstums dargeboten wird und Gläubige aus allen Völkern in ihrer Sprache im Gottesdienst teilhaben können9). Aber diese grundsätzliche Bereitschaft der orthodoxen Kirche, Völker in deren Sprachen anzureden, erfährt eine Beeinträchtigung durch den "liturgischen Isolationismus", um einen Ausdruck von Ernst Benz aufzugreifen, mit dem er die stark betonte Stellung der Liturgie im Leben der orthodoxen Kirchen nach der Gefahrenseite hin kennzeichnet10). Die Fragen einer Übersetzung sind in der Sicht des russisch-orthodoxen Theologen von ganz besonderer Tragweite. Anders als im protestantischen Bereich, in dem die Sprache nur Medium des göttlichen Wortes ist und die Übersetzungsfragen gerade bei liturgischen Ordnungen formaler Natur sind und sich hauptsächlich nach philologischen Erwägungen ausrichten,11) stellt sich die Frage nach der Beziehung des göttlichen Wortes zu seiner sprachlichen Mitteilung im orthodoxen Bereich in eigener Weise. Die Sprache der Liturgie, ursprünglich in der Volkssprache, ist gerade wegen der Bedeutung der Liturgie gegenüber der Entwicklung der Volkssprachen zurückgeblieben. Im orthodoxen Bereich ist die Sprache nicht allein Medium, sie hat vielmehr etwas von dem Gewicht der "göttlichen Liturgie" selbst angenommen. Wenngleich die slawischen Liturgien selbst nur Übersetzung des griechischen Urtextes der Liturgien des Johannes Chrysostomos und Basilios des Großen und anderer sind, so haben doch die eigentliche Entwicklung der russischen Orthodoxie und die Betonung der konservativen Elemente des theologischen Bereichs innerhalb der russischen Geistesgeschichte dazu geführt, dass die slawische Liturgie selbst etwas von der Bedeutung einer unaufgebbaren Urform angenommen hat.
Seinen Niederschlag hat dies zu den verschiedensten Zeiten in gewichtigen Auseinandersetzungen gefunden. Das war der Fall in der Zeit der Nikonischen Reformen, die zur Entstehung des Raskol geführt haben. Form und Materie gehörten für die Vertreter des Raskol so zusammen, dass eine Veränderung der Form auch eine Verletzung des materialen Gutes bedeutete. Das hat seine letzte Grundlage in dem Verständnis des Begriffes "eikon" innerhalb der orthodoxen Theologie in Verbindung mit den aus der platonischen Philosophie herrührenden Vorstellungen.12) In der russisch-orthodoxen Theologiegeschichte war das Problem der Sprache erneut in den Auseinandersetzungen zur Zeit der Tätigkeit der Bibelgesellschaft unter Alexander I. gestellt. Als die Übersetzung der Bibel in das Russische vorgenommen wurde, wurde diese Bemühung zu einem Streitgegenstand. Sie gab [S. 138] Admiral Šiškov Anlass, seine eigentümliche Sprachlehre zu entwickeln.13). Im Laufe des 19. Jahrhunderts stellte sich das Problem immer erneut da, wo – wie im Falle der Potsdamer Gemeinde – Glieder der Orthodoxie nicht mehr das Slawische verstanden und nicht der russischen Sprache mächtig waren. Äußerungen aus dem orthodoxen Bereich zu den Übersetzungen des Propstes Maltzew legen davon Zeugnis ab. Zu diesem gehört die Beurteilung des Professors der Petersburger Geistlichen Akademie, Prokovskij14); sie ist von Maltzew einem seiner Werke, der Jubiläumsausgabe der "Göttlichen Liturgien" beigefügt. Eine Übersetzung anzufertigen, entsprang, wie wir sahen, dem seelsorgerlichen Anliegen Maltzews, den Gottesdienst verständlich zu machen. Demgegenüber stand aber weitgehend in der russisch-orthodoxen Kirche das unausgesprochene oder ausgesprochene Vorurteil, dass nur die Liturgie in der griechischen und slawischen Sprache die eigentliche und festgelegte Form des gottesdienstlichen Handelns sei. So versteht es Prokovskij, wenn er sagt, dass die russische Sprache, die gebräuchlich für den üblichen Lebensbedarf sei, unvermeidlich die Hoheit und Schönheit der orthodoxen Gottesdienste, die bis jetzt in der alten Sprache durchgeführt werden, profaniere. Nur die alte Sprache sei ausgeschlossen von der Vermehrung durch alltägliche und irdische Worte der lebendigen Sprache und bewahre deshalb die Hoheit der Liturgie besser als die gewöhnliche russische Sprache, deren Gebrauch die Erkenntnis der erhabenen Poesie, an welche sich der Sinn der rechtgläubigen russischen Christen gewöhnt habe, schmälert15).
In der ersten Übersetzung der Liturgie 1890 waren nach Malzews Worten die Bemühungen bestimmend,"die unvergleichliche Majestät und poesievolle Schönheit der Sprache, welche den griechischen und slawischen Urtext auszeichnet, unter treuer Wiedergabe des Wortlautes auch in der Übertragung zum Ausdruck bringen"16)
In der Jubiläumssausgabe des Jahres 1911 der "Göttlichen Liturgien" bestimmt Maltzew noch einmal die Aufgabe und bemerkt, dass die Übersetzung völlig neu durchgesehen sei und Verbesserungen erfahren habe, "so dass sie im Vergleich mit den früheren Aussagen als richtiger und vollkommener betrachtet werden kann, wobei besonders darauf geachtet ist, dass die deutsche Übersetzung sogar wörtlich und buchstäblich in der Wortfolge den griechischen und slawischen Text wiedergibt".17) Ein Beispiel möge dartun, wie Maltzew, diese Aufgabe gelöst hat:
o 1890
Sprich den Segen Gebieter...
Du Geist der Wahrheit allgegenwärtig, und alles erfüllend...
Wir werfen uns darnieder vor deinem allerreinsten Bildnisse...
o 1911
Segne Gebieter...
Du Geist der Wahrheit, Allgegenwärtiger und alles Erfüllender...
Vor deinem allreinen Bilde fallen wir nieder... 18)
[S. 139] Die Reihe der Beispiele lässt sich vermehren. Sie sind im ganzen in den Veränderungen und Verbesserungen nicht nennenswert, zeigen aber doch, wie sehr Maltzew die Anregungen seiner Beurteiler aufgenommen hat und nach seinen eigenen Intentionen sich bemüht hat, dem besonderen Charakter und dem besonderen Verständnis der orthodoxen Liturgien in ihrer sprachlichen Formung gerecht zu werden. Das Missverständnis, dass die russisch-orthodoxe Kirche missionarisch untätig gewesen sei – sie hat aber eine vielfach unterschätzte, bedeutsame missionarische Tätigkeit ausgeübt, – hat sich sicherlich auch an ihrem liturgischen Konservativismus und der Zurückhaltung gegenüber dem Schritt in die russische Umgangssprache entzündet. Zweifellos musste die Rücksicht auf die gottesdienstliche Sprache die missionarischen Bemühungen berühren. Praktisch, nicht theoretisch, hatten das Verständnis der Liturgie und ihrer Sprache und die Bestrebungen zu Übersetzungen in eine andere Sprache etwas einander Gegensätzliches, wenn schon der Weg der Übersetzung aus der gottesdienstlichen Sprache in die Umgangssprache so fortgesetzten, energischen Widerstand fand.
Nach dem Verständnis, das in zahlreichen Veröffentlichungen über die Verbindung von Form und Inhalt der Liturgie und die Sprache in der Ära Pobedonoscevs geäußert wurde und vorher entwickelt war, bleibt als eigentlicher Weg strenggenommen nur die Umwandlung der an der Orthodoxie interessierten Fremden in eine auch deren Spradie annehmende und in den orthodox-russischen Lebensbereich hineinwandernde Gruppe übrig. Die Probleme der Sprache und der Übersetzung entsprechen somit auch den in der Zeit von Pobedonoscev entwickelten und geübten Bestrebungen der Russifizierung der im russischen Reich lebenden Minderheiten sowie der gesamten Religionspolitik in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, die in fortgesetzter Bemühung etwas von der providentiellen Sendung des orthodoxen Russland zu reden weiß19).
Zwar erscheinen diese Aussagen wie bei Maltzew so auch bei anderen nicht als dogmatisch lehrhafte Aussagen. Sie treten als ästhetische Urteile auf, aber mit einer solchen Prononcierung und in so hymnisch überhöhter Art, dass sie selbst etwas vom Charakter eines Hymnus und liturgischer Termini angenommen haben und damit in den Bereich der liturgischen Aussage, die doch in der Orthodoxie Darstellung des Dogmas ist, hineinreichen.
2. Die Selbstmitteilung der Kirche
Neben dem Beweggrunde der Versorgung nennt Maltzew ferner den anderen, dass die vorliegende Erstausgabe geeignet sein möchte, "auch unseren anderen Konfessionen angehörigen Brüdern in Christo bei der richtigen Beurteilung des orthodoxen Gottesdienstes förderlich" zu sein.20) Bereits bei diesem Anlauf seines Übersetzungswerkes erwähnt Maltzew seinen Mit- [S. 140] arbeiter W.A.Goeken mit Dank "für seine eifrige Beteiligung und unermüdliche Mitwirkung, insbesondee hinsichtlich des deutschen Textes" (S. XVI).
Mit Goeken hatte es eine besondere Bewandtnis. Er war der Sohn eines jüdischen Berliner Hauses, war Offizier der Preußischen Armee gewesen und hatte den Weg zur Orthodoxie gefunden. Schließlich unterzog er sich der Ausbildung zum Priester. Als Priester Basilius Goeken wurde er Maltzews ständiger Mitarbeiter auch im geistlichen Amt. Er starb 1915 in Berlin, im gleichen Jahr wie Maltzew, und ist auf dem Tegeler Friedhof der orthodoxen Gemeinde beigesetzt.
Neben dem seelsorgerlichen Auftrag, der zu Übersetzungen schreiten ließ, neben der Bekanntmachung anderer mit dem orthodoxen Gottesdienst steht nun aber noch ein weiterer Gesichtspunkt, der mehr und mehr auf die Verständlichmachung, d.h. die Übersetzung und Selbstmitteilung der Orthodoxie drängte. Es war der, dem oft einseitig negativ gefärbten westeuropäischen Russlandbild, das zuweilen in schroff ablehnender Haltung der orthodoxen Kirche und dem russischen Staatsgefüge gegenüberstand, eine eigene Darstellung, Rechtfertigung und Propaganda entgegenzustellen. Eine nicht unerhebliche Kleinschriftenliteratur, auch in deutscher Sprache, legt von diesen Bemühungen der orthodoxen Kirche und sicherlich auch des hinter ihr stehenden Staates Zeugnis ab.
Will man diese Propaganda im allerweitesten Sinne auch als Mission ansprechen, so nötigen also Seelsorge und Mission die orthodoxe Kirche zu einer Selbsmitteilung in anderen Sprachen. Jedoch ist diese Mitteilung, je ernsthafter zu sein sie sich bemüht, immer an das Bestreben gebunden, nicht nur dem Geist der Orthodoxie, sondern auch die leibhaftige Ausprägung dieses Geistes in seinen bestehenden Formen zu propagieren. Das ist eine Einschränkung und musste die Möglichkeiten der orthodoxen Kirche bei einer Einwirkung gerade auch auf Außenstehende immer wieder beschränken21).
[S. 141] In diesem Zusammenhang des Willens zur Mitteilung und seiner gebrochenen Ausführung sind auch die folgenden Äußerungen von Prokovskij zu verstehen. "Die Übersetzung der gottesdienstlichen Bücher dient als ein wunderbares Mittel zur Vertrautmachung der aufgeklärten europäischen Gesellschaft nit unserem, wahrhaft allerbesten Gottesdienst in der Welt. Wer in die ausländischen Kirchen an den großen Feiertagen, an einem Tage besonderer feierlicher Gottesdienste kommt, der weiß, mit welchem großen Interesse sich zu ihnen nicht nur Protestanten, sondern auch Katholiken einfinden, besonders dort, wo unsere Gottesdienste in einer für sie verständlichen Sprache abgehalten werden, so pflegt es z.B. in Paris, Wien, Berlin zu sein. In Potsdam, wo alle unsere Gottesdienste in deutscher Sprache vollzogen werden, sind ständig viele Protestanten."22)
Mehr und mehr wandte sich Maltzew von seinem ursprünglichen Ausgangspunkt der Betreuung des Kirchenslawischen unkundiger Orthodoxer, zu seiner bereits in der ersten Arbeit des liturgischen Zyklus angegebenen zweiten Aufgabe der Mitteilung und Darstellung gegenüber den Nichtorthodoxen, zunächst im Blick auf den deutschen Protestantismus zu. Auch Kattenbusch bemerkt diese Entwicklung und gibt dem Inhalt dessen, was im Vorwort des Bandes über die Bitt-, Dank- und Weihegottesdienste von Maltzew geäußert worden war, in seiner Rezension einen verhältnismäßig breiten Raum.
3. Die Kritik der Konfessionen und die Wiedervereinigung der Kirchen
Damit begab sich Maltzew in den Fragenkreis der um die Jahrhundertwende unter den Konfessionen lebhaft geführten Unionsgespräche. Die Einigung der Kirche ist Maltzew ein aufrichtiges Anliegen. Bei der Herausgabe des "Oktoichos" 1904 sieht er auch die Aufgabe, "dass auch dieser Band...nicht überflüssig sein wird im Bau des großen und heiligen Werkes der kirchlichen Einigung, zu deren Erreichung gegenseitige genaue Bekanntschaft und Erkenntnis das beste und fast einzige Mittel sein dürfte. Dass dieses große und erhabene Ziel nach göttlichem Ratschluss erreicht werden möge, das ist mein sowie meines hochwürdigen Herrn Mitarbeiters, des Priesters Basilios Goeken, innigster Herzenswunsch!" 23)
Um verständlich zu machen, welches Maltzews Ansichten sind, der hier autoritativ für seine Kirche auf deutschem Boden spricht, ist es geboten, kurz auf die Beziehung der Konfessionen um die Jahrhundertwende einzugehen. Die Entstehung bzw. Belebung der alt-katholischen Gemeinden als eine von der römischen Kirche unerwünschte Folge des Vatikanums hatte dazu geführt, dass sich die Alt-Katholiken in betontem Maße um die Verbindung zu den ihnen verwandten Gruppen praktisch wie auch dogmatisch bemühten. Hierbei ging es einerseits um die Begegnung mit der anglikanischen Kirche, andererseits um die mit der orthodoxen Kirche. Die stärker gewordene Abgrenzung der römischen Kirche durch das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes entfachte hinwiederum die Kontaktgespräche zwischen den Anglikanern, den Russisch-Orthodoxen und auch der Griechischen Kirche. Eine besondere Schlüsselgestalt war hierbei der Patriarch von Konstantinopel Jojakim III. Zahlreiche Gespräche, Tagesnachrichten und Erörterungen in [S. 142] den theologischen Blättern legen davon Zeugnis ab. Bei all diesen Auseinandersetzungen war zugleich der Protestantismus nicht allein in Deutschland, aber doch hier vornehmlich wegen des Gewichtes der deutschen protestantischen Theologie beteiligt.
In der Sicht Maltzews findet das darin seinen Ausdruck, dass er bei seiner Stellungnahme über eine mögliche Wiedervereinigung der Kirchen den Maßstab zugrundelegt, in welchem Maße sowohl bei den Anglikanern als auch bei Alt-Katholiken protestantisches Gedankengut dogmatisch und auch praktisch bestimmend geworden sei.24). Für das Verhältnis zu den Protestanten gilt: "...mit sämtlichen auf dem Boden der Reformation stehenden Kirchengemeinschaften ist aber eine Union ganz unmöglich, weil die Protestanten nach ihrer eigenen Lehre die göttliche Institution eines besonderen Priestertums nicht anerkenne, mithin selbst auf die 'successio apostolica' verzichten"25).
Die Betonung des Priestertums und der apostolischen Sukzession wird damit ein einschneidendes Moment in Maltzews Beurteilung einer möglichen Union. Dabei spricht er auch von den Möglichkeiten, die sich für eine solche Union der orthodoxen Kirche mit heterodoxen orientalischen Kirchen ergeben würden. Sie "weichen nur in einem Dogma von der Orthodoxie ab, und zwar die Nestorianische Kirche durch die Nichtanerkennung der Einheit der Person Jesu, die Monophysitischen Kirchen, die Koptische, Syrische, Äthiopische, Armenische Kirche, aber durch die Nichtannahme der Lehre von der Zweiheit der Naturen in Jesu"26). Eine Union dieser Kirchen mit der orthodoxen orientalischen Kirche "würde daher verhältnismäßig nicht schwierig sein", weil alle diese Kirchen im von der Orthodoxie unbestrittenen Besitze der successio apostolica und damit eines gültigen Priestertums seien.
Über die Römisch-Katholische Kirche äußert sich Maltzew nur ganz kurz, wenn er vermerkt, dass der bisherige wesentliche dogmatische Unterschied der Zusatz des "Filioque" zum Symbol sei, wobei unlängst das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes und "in gewisser Hinsicht"27) noch früher die Lehre von der "Immaculata conceptio" getreten sei.
[S. 143] Im Blick auf die Anglikanische Kirche ergibt sich für Maltzew, dass sie auch zu den protestantischen Kirchengemeinschaften zu zählen sei. Ihre 39 Artikel seien ausgesprochen protestantisch, der Latitudinarismus, als dieser Kirche eigentümlich, sei ein ausgesprochen protestantisches Element. Außerdem habe sie auf den übernatürlichen Charakter ihres Priestertums verzichtet, es fehle ihr also die successio apostolica.28)
Nicht minder ablehnend im Blick auf die Möglichkeiten einer Union ist Maltzews Beurteilung der Alt-Katholiken. Für ihn unterscheiden sie sich von den orthodoxen orientalischen Kirchen besonders tief "durch ihren Begriff von der Kirche und ihrer Auffassung von dem unfehlbaren kirchlichen Lehramte"29). Verschiedene "protestantische" Äußerungen alt-katholischer Theologen führen ihn zu dem Verdikt über den Alt-Katholizismus, dass auch bei ihm protestantisches Lehrgut in großem Maße eingebrochen sei, zumal im Hinblick auf die beiden genannten Lehrgebiete.
In der Abwehr alt-katholischer Formulierungen entwickelt Malzew somit das orthodoxe Verständnis von der Kirche. Hatten diese behauptet, dass sowohl die abendländische wie auch die östliche Kirche "ihre eigentümliche, partikulare Entwicklung durchgemacht"30) hätten und dass das wahre katholische Dogma weder im Orient noch im Okzident, sondern nur in der ungeteilten Kirche der ersten acht Jahrhunderte anzutreffen sei, so stellt er dem entgegen, dass dann also die wahre Kirche seit dieser Zeit aufgehört haben müsse zu existieren, "die Pforten der Hölle hätten sie überwunden, die Verheißung Christi hätte sich (dann – d.V.) nicht erfüllt"31). Für Maltzew ist die Kirche Wahrheit. Sie ist gültig im Besitz derselben, er will sie nicht an die Gelehrten ausgeliefert wissen, die zwar bei ihren Arbeiten "äußerst gelehrt sein können, aber keineswegs unfehlbar sind"32). Maltzew stellt dabei erneut fest, dass derartige Auffassungen im Alt-Katholizismus "nichts anderes als der Protestantismus der Reformatoren in neuer Auflage" seien. "Ja, in gewisser Hinsicht stehen die Reformatoren des 16. Jahrhunderts der Orthodoxie sogar näher als die Alt-Katholiken, indem sie nicht in dem Maße wie die Alt-Katholiken an der göttlichen Inspiration der Heiligen Schrift zweifeln".
4. Das Problem der Wahrheit und der Kirche
In der Auseinandersetzung mit den christlichen Konfessionen klingt immer wieder die Wahrheitsfrage an. Nannte der Verfasser der Streitschrift [S. 144] gegen die orthodoxe Kirche, Irgen, die orthodoxe Kirche "irreformabel" und wollte damit die Erstarrung dieser Kirche kennzeichnen, so greift Maltzew dieses Wort "irreformabel" auf: "...die (die Kirche) ist irreformabel, weil sie die Unfehlbare Kirche des Herrn ist, der dieselbe als sein geistiges Königreich ebenso nach ewigen Grundsätzen leitet und vor Irrtum bewahrt, wie er der materiellen Schöpfung unwandelbare Naturgesetze zugrunde legt, und alles nach Maß und Zahl in Weisheit geordnet hat. Ja, fürwahr, ein geringeres Unterfangen wäre es, wenn ein sterblicher Mensch versuchen wollte, die Bahn des Saturn zu ändern, als wenn er sich erkühnt, das heilige Gottesreich der Kirche reformieren zu wollen, die da ist der mystische Leib Christi und die unbefleckte Braut des Heiligen Geistes, der sie leitet in alle Wahrheit"33).
Wenig später heißt es im gleichen Zusammenhang, dass die Kirche nicht eine menschliche Institution sei, bestimmt wie alles Irdische einst unterzugehen, sondern "...die orthodoxe Kirche befindet sich im unwandelbarem Besitze der von Gott offenbarten Wahrheit. Sie hat nicht nötig, nach der Wahrheit zu suchen; sie besitzt dieselbe als unverlierbaren Schatz"34). Diese Worte, in einer Zeit gesprochen, die dem Relativismus zugeneigt war und mit diesem statischen Wahrheitsbegriff nichts anfangen konnte, mussten schockieren und ließen eigentlich kein weiterführendes Gespräch mehr zu, allenfalls das Eingeständnis beider Seiten, dass man über eine Polemik im üblichen Sinne nicht hinauskommen könne.
Unschwer wurde die Orthodoxie mit den Vorwürfen fertig, die sie oftmals zu hören bekam, dass vieles im äußeren Leben der Kirche und der orthodoxen Gesellschaft sowie des russischen Staates nicht in Ordnung sei. Auch Maltzew bekam das wiederholt zu hören. Doch konnte er diese Vorwürfe leicht abtun, weil sie das für ihn Wesentliche, nämlich die Inkarnation der Wahrheit und des Göttlichen in einer dunklen Welt nicht ernsthaft in Frage stellten.
Die aus westlichem Verständnis heraus geschehenen Anklagen gegen Erscheinungsformen des orthodoxen Lebens berührten die Orthodoxie ebensowenig wie der Hinweis auf Missstände und Diskrepanzen in der sozialistischen Welt einen überzeugten Kommunisten bewegte. Er sah in den gegenwärtigen und von ihm erkannten Missständen das Bild der zu erzielenden Zukunftsform sich abzeichnen. So sieht der orthodoxe Vertreter auch in allen Erscheinungen seiner Gegenwart, die einem westlichen Verständnis des Christentums zum Anstoß werden konnten, die gültige Ausprägung der Wahrheit und die göttliche Liturgie im weitesten Sinne in und an dieser Welt. Die schon so oft gemachten Hinweise auf Parallelen im orthodoxen und marxistisch-leninistischen Verständnis sollten nicht zu sehr strapaziert werden. Sie finden sicherlich an diesem Punkte, bei dem es um die Frage der gültigen Wahrheit in der Zeit geht, eine bemerkenswerte Nahrung. Was beim Marxismus-Leninismus in die Zukunft projiziert ist, ist hier, in der Orthodoxie sowohl zeitlich nach rückwärts projiziert als auch ontologisch das Gültige und Bestimmende in und hinter den Erscheinungen.
[S. 145] So müssen auch Bemerkungen in der zweiten Schrift Maltzews gegen Irgen verstanden werden. Mit unrichtigen Angaben über die Dogmatik, die sich Irgen nach Meinung Maltzews hatte zuschulden kommen lassen und die Maltzew als falsch erklärt, stößt er damit, so Maltzews Worte, auch Irgens falsches Urteil über die Kirche um: "Auf den kirchenpolitisch-religiös-nationalen Standpunkt bin ich nicht eingegangen und werde ich auch nicht eingeben, weil dies über das Ziel, welches ich mir gesteckt habe, hinausgeht, und ich nicht als Politiker mich in staatliche Angelegenheiten mischen, sondern nur als Theologe ungerechte Beschuldigungen von meiner Kirche abwehren will. Der dogmatische Standpunkt ist allein für mich von Interesse; wenn gegen die russische Kirdie in moralischer oder nationalpolitischer Beziehung nicht der geringste Vorwurf erhoben werden könnte, es wäre aber möglich, sie einer Abweichung von der apostolischen Tradition in bezug auf Dogma und Kultus zu überführen, dann wäre damit die Fehlbarkeit der Kirche bewiesen, und sie könnte gar keinen Anspruch auf Autorität mehr erheben, sie könnte keine Garantie mehr dafür bieten, dass sie noch im Besitz der Erlösungsgnade Christi ist oder gar jemals war. Gelingt es Herrn Irgen, zwischen der gegenwärtigen orthodoxen orientalischen Kirche, von welcher die russische nur einen Teil bildet, und der Kirche des Altertums in Dogma und Kultus einen Widerspruch nachzuweisen, so hätte er in meinen Augen damit nicht nur der russischen Kirche, nein, dem Christentum überhaupt jede Existenzberechtigung geraubt. Andererseits aber, solange zugegeben werden muss, dass die orthodoxe orientalische Kirche die apostolische Tradition unversehrt bewahrt hat, solange ist sie die Kirche, welche vom Herrn selbst die Verheißung erhalten hat, dass die Pforten der Hölle sie nicht überwältigen sollen."35)
5. Nation und orthodoxe Kirche
Wie sehr das Theologische und das National-Politische bei Maltzew eine Einheit bilden, zeigt sich in seinem Vorwurfe, dass sich alt-katholische Blätter pietätlos über neuerliche "Entscheidungen der russischen Kirche und der sich in ihnen offenbarenden religiösen Anschauung" ausgesprochen hätten36). Diese Anwürfe gegen Praktiken der russischen Kirche wie auch des russischen Staates, die in den alt-katholischen Veröffentlichungen in Ausdrücken wie "Opfer russischer Gesetzgebung", "Barbarenstaat", "Rückständigkeit", ihren Ausdruck gefunden hätten37), führen Maltzew zu der Beurteilung, in der bezeichnenderweise alles von gleichem Schwergewicht erscheint: "Mit Rücksicht auf diese unter den Alt-Katholiken vorhandenen feindlichen Strömungen gegen die orthodoxe und orientalische Kirche, gegen das Slawentum und insbesondere gegen die russische Regierung, erheben sich gewichtige Bedenken gegen eine Union mit den Alt-Katholiken, welche geeignet wäre, Wirrnisse, Unruhen und Aufruhr in die orientalische Kirche zu bringen"38). Das Festhalten am Gewordenen und Bestehenden, das Verharren auf dem erreichten dogmatischen Status ist den Experimenten und der Un- [S. 146] ruhe abhold. Wenn sich Maltzew gegen die möglichen Wirrnisse und den Aufruhr wendet, spricht aus ihm nicht die Denkweise eines bloß konservativen Menschen; zugrunde liegt das Verständnis, dass die erkannte Wahrheit durch Neuerungen nur beeinträchtigt, keineswegs aber vertieft oder vollkommener werden kann. Der Konservativismus, der sich in Maltzews Äußerungen ausspricht, ist zutiefst durch das Verständnis der Kirche und des Besitzes der Wahrheit, wie es in der Orthodoxie besteht, bestimmt.
Union im Sinne der Orthodoxie schloss im Zeitalter Maltzews die Hinwendung zum russischen Leben, zur russischen Geistesgeschichte sowie die Bereitschaft, die politischen Maßnahmen des russischen Staates gut zu heißen, in sich ein. So wendet sich Maltzew in seiner Widerlegung der Schrift des Dr. Paul Irgen dieser Frage zu. Irgen hatte gesagt, dass man sich in Russland zu erheben beginne "gegen die Lüge von der göttlichen Autorität der demoralisierten Regierung". Maltzew erwidert darauf: "(Ich) möchte...nur beiläufig bemerken, dass die Lehre von dem Fürstentum aus Gottes Gnaden nicht nur als Eigentümlichkeit der russischen Staatskirche, sondern als eine allgemeine christliche Anschauung anzusehen sein dürfte. Und wenn die orthodoxe orientalische Kirche mit besonderem Nachdruck an ihre Angehörigen die Forderung hingebender Treue und Anhänglichkeit an den Landesherrn stellt, so befindet sie sich hierbei im vollsten Einklange mit dem Evangelium des Herrn und den Lehren der Apostel, kann daher deshalb, wenigstens vom christlichen Standpunkt aus, nicht getadelt werden."39)
In der zweiten Widerlegung der Schrift Irgens äußert sich Maltzew noch einmal zu einem Teilbereich dieses gesamten Komplexes. Irgen hatte gegen die orthodoxe Priesterschaft in Russland wegen ihres sittlichen Status Bedenken erhoben. Darauf erwidert Maltzew: "Der russische Geistliche lebt vollkommen in und mit dem Volke, er besitzt in gewissem Maße die Fehler und Vorzüge, die dem russischen Volkscharakter eigentümlich sind. Ob die schlichte Einfachheit, der treue kindliche Glaube, das von christlicher Demut und Sanftmut erfüllte Benehmen des russischen Priesters, das frei ist von Hochmut und Überhebung gegen Arme und Bedrückte, ob die Geduld und Ergebung, mit der er oft die größten Entbehrungen zu ertragen weiß, nicht geeignet sind, uns das Herz des russischen Priesters als einen Edelstein von unschätzbarem Werte erscheinen zu lassen. diese Frage möge Herr Irgen beantworten, wenn er einen russischen Priester kennengelernt haben wird."40)
Das Bestreben, die Einheit von Kirche und Staat in Russland zu betonen, hatte sich ungeachtet dieser postulierten Zusammengehörigkeit mit den auflösenden Tendenzen im russischen Bereich auseinanderzusetzen. In einer solchen Frontstellung befand sich Maltzew gegenüber dem im deutschen Sprachbereich damals viel gelesenen Leo N.Tolstoj. Im Liturgikon, S. IXff, polemisiert er gegen den Grafen und dessen "ironische" Beschreibung der Liturgie der östlichen Kirche. Gleichfalls im Menologion II, 1901, S. XIXff, polemisiert er gegen Tolstojs "kurze Darstellung des Evangeliums" und erhebt Einwände gegen dessen Auffassung von der mangelnden Echtheit der [S. 147] Evangelien. Dagegen hebt er die Bedeutung der Schrift Gogols über die göttliche Liturgie hervor, deren erste Veröffentlichung in deutscher Sprache er dem Liturgikon im Jahre 1902 vorausschickt. Verbunden ist diese Veröffentlichung mit der Klage, dass diese Schrift Gogols so unbekannt sei, während die liturgische Schrift Tolstois "die ganze Welt" durchlaufen habe.41)
Wie so vielen seiner Zeitgenossen in Russland, gerade auch im Priesterstande, blieb es Maltzew nicht erspart, in seinem eigenen Hause die Spannungen zu durchleben, die im politischen, sozialen, kulturellen Bereich Russlands gegeben waren. Maltzews Sohn betätigte sich schon frühzeitig in der revolutionären Bewegung seines Landes. Polozenskij sagt in seinem kurzen biographischen Beitrag über Maltzew, dass diese Betätigung des Sohnes dem Vater viel Sorge und Unannehmlichkeiten bereitet habe. Nicht um der äußeren Unannehmlichkeiten willen sei diese Angabe hier vermerkt, sondern um deutlich zu machen, dass sich Maltzew mit einem Verständnis auseinanderzusetzen hatte, welches in sein eigenes Leben hineinwirkte. Bemerkungen wie die summarische und häufig in der orthodoxen Polemik zu findenden Darstellung, dass das mangelnde Verständnis "von der Unfehlbarkeit der Kirche konsequenterweise zum Heidentum und Atheismus" führe42), erfahren eine Auslegung durch Maltzews persönliches Geschick.
Über das Lebenswerk Maltzews ist nicht nur die kirchliche Entwicklung hinweggegangen, auch die bedeutsamen diakonischen Anstöße, die Maltzew in den russischen Auslandsgemeinden Deutschlands und Westeuropas bewirkte, sind im Zusammenbruch der russischen Kirche und ihrer Auslandsgemeinden nach dem Ersten Weltkriege dahingegangen. Die Fragestellungen Maltzews, seine Argumentation innerhalb der westlich-theologisch bestimmten Welt, in der er Jahrzehnte lebte, scheinen jedoch heute noch wichtig genug, um sie in diesem kurzen Abriss darzustellen.
Zumal für das ökumenische Gespräch mit den orthodoxen Kirchen sind sie heute bedeutsam. Wenn dieses Gespräch über seinen heute erreichten Umfang hinaus zu einem solchen dogmatischen Gespräch wird, wie es seinerzeit von ihm geführt worden ist, dürfte es eine Vertiefung, aber auch eine Erschwerung erfahren. Maltzews Aussagen behalten hinter den erreichten ökumenischen Kontakten ihre Bedeutung. Sie sind Ausdruck eines selbstbewussten Verständnisses, das seine Stärke durchaus nicht von der in Maltzews Zeit ungebrochenen Stellung der russischen Orthodoxie im Leben des russischen Staates und der russischen Gesellschaft hernimmt.. Die grundlegenden kritischen Maßstäbe, die Maltzew bei der Beurteilung anderer Konfessionen anlegt, nötigen dazu, da sie noch nicht von der orthodoxen Schultheologie her Widerspruch erfahren haben, das ökumenische Gespräch von romantisierenden Vorstellungen und bloß taktischen Erwägungen freizuhalten. Dieser Hinweis erscheint nicht unangebracht angesichts der Tatsache, dass in mancherlei Monologen in der ökumenischen Welt allzu leicht eine Ausklammerung bestehender Kontroverspunkte vorgenommen wird.
Aus:
Kyrios 1962, NF 2, S. 133-147.
Anmerkungen
1) Es wäre interessant festzustellen, in welchem Maße die Arbeiten der Inneren Mission vielleicht auch die Tätigkeit der Berliner Stadtmission für die diakonische Tätigkeit Maltzews Anstöße bewirkt habe.
2) Vgl. K XV-letiju Sv.-Knjaz'-Vladimirskago-Bratsva v Berline, erarbeitet unter der Schirmherrschaft v. Großfürst Vladimir Aleksandrovič, Berlin 1906, mit zahlreichen Angaben über die Entwicklung des orthodoxen Kirchenlebens in Deutschland.
3) Herrn Propst Sergius Polozenkij, Berlin, sei für Orientierungen aufrichtiger Dank gesagt. Den persönlichen Angaben über Maltzew oben und im folgenden ist ein kurzer Artikel von Propst Polozenskij in russischer Sprache in dem Gemeindeblatt seiner Berliner Gemeinde anlässlich der 100. Wiederkehr des Geburtstages von Propst Maltzew im Jahre 1954 zugrunde gelegt.
4) Eine Besprechung Harnacks ist kühl und mit Abstand gehalten, im ganzen jedoch würdigt er die Leistung Maltzews mit freundlicher Achtung, legt dann aber das Werk in die Hände der Liturgiker: "Dem Übersetzungswerk selbst wünschen wir weite Verbreitung, namentlich bei unseren Liturgikern". – Etwas von seinen später im "Wesen des Christentums" gegenüber der orthodoxen Kirche geäußerten Vorbehalten klingt auf, wenn er sich zu der Vorrede Maltzews über die Schönheit und Erhabenheit der orthodoxen Liturgie äußere, sie lese sich "wie eine Homilie des 4. Jahrhunderts" – Theologische Literaturzeitung 1892, Nr. 16, Sp. 408f. Ausgeführter und sehr interessiert sind die Besprechungen von Ferdinand Kattenbusch, in denen sich sein Interesse an der Beurteilung der Probleme der orthodoxen Kirche deutlich widerspiegelt. – So in Theol. Lit. Zeitung 1898, Nr. 18, Sp. 492-495. – Vgl. auch seine Konfessionskunde I. "Die orthodoxe Kirche des Ostens". Auch der aus Russland stammende Nathanael Bonwetsch äußert sich in "Theol. Literaturblatt" vom 25.11.1898 bei der Besprechung des Bandes "Sakrament" positiv über den Wert der Werke Maltzews und weiß ihm den Dank derer gesichert, "welche eine genauere Bekanntschaft mit der russischen Kirche und der von dieser so hochgehaltenen Gestalt ihres Kultus erstrebten".
5) So im Oktoichos (Parakletike), S. XIII-LXXXVI: "Die Möglichkeit einer Wiedervereinigung der getrennten Kirchen, vom Standpunkt der Orthodoxen Katholischen Kirche des Morgenlandes aus betrachtet" – mit 2 Anhängen, im folgenden als "Oktoichos" zitiert.
6) U.a.: Dogmatische Erörterungen zur Einführung in dass Verständnis der orthodoxen katholischen Auffassung in ihrem Verhältnis zur römischen und protestantischen, von einem Geistlichen der orthodox-katholischen Kirche. Berlin 1893. Die russische Kirche, Widerlegung der Abhandlung von Dr. Paul Irgen, Berlin 1893. Die russische Kirche. 2. Widerlegung der Polemik des Herrn Paul Irgen. Berlin 1893. Die russische Kirche und Dr. Knie. Separat-Abdruck aus der Internationalen Theologischen Zeitschrift. Berlin 1894.
7) Diese Schriftstelle, die eigentlich vom Zungenreden handelt, wird hier in einer sehr freien Auslegung von Maltzew auf den Gebrauch einer fremden Sprache überhaupt ausgelegt.
8) Die göttlichen Liturgien, 12. Ausgabe 1890, Vorwort, S. VI.
9) Ernst Benz, Geist und Leben der Ostkirche, Hamburg 1957, S. 91f.
10) E.Benz, a.a.O., S. 175.
11) Auch dies gilt mit Einschränkungen, wenn man die Fragen der Bibelrevisionen und der Erörterungen darüber in der deutschen protestantischen Welt betrachtet – dies in einer Kirche des Wortes, der Verkündigung und Predigt.
12) Vgl. E.Benz, a.a.O., S. 7-15.
13) Vgl. Ludolf Müller, Russischer Geist und evangelisches Christentum, S. 17-20.
14) Die göttlichen Liturgien, Jubiläumsausgabe, Berlin 1911.
15) Die göttlichen Liturgien, Jubiläumsausgabe, Berlin 1911, Anhang, S. 2.
16) Die göttlichen Liturgien, 1890, Vorwort, S. XVI.
17) Die göttlichen Liturgien, Jubiläumsausgabe 1911, Vorwort, S. VII.
18) Ausgabe 1890, S, 44-46; Jubiläumsausgabe, S. 1-2.
19) Es ergeben sich hier Parallelen zu den der deutschen evangelischen Diaspora auch in vielen Gebieten Russlands gestellten Problem, mit der Tatsache einer wachsenden Minderheit nicht mehr als deutsch, estnisch oder lettisch sprechenden Protestanten fertig zu werden. Wenn auch in den evangelischen Kreisen in Russland die Frage nicht so pointiert gestellt war, dass der sprachliche Wortlaut ein theologische Problem selbst war, so wirkten sich doch in den Entscheidungen die Beziehungen von deutschem, sprachlichen Kulturverständnis zum evangelischen Bewusstsein aus. Vgl. dazu die Hinweise bei W.Kahle, Aufsätze zur Entwicklung der evangelischen Gemeinden in Russland, S. 82ff.
20) Die göttlichen Liturgien 1, Ausgabe 1890, Vorwort S. XIV. Schon früher waren aus gleichen Gründen der Selbstmitteilung an ihrer Muttersprache entfremdete orthodoxe Christen und aus Gründen der Mitteilung an Angehörige anderer Konfessionen Übersetzungen in die deutsche Sprache erfolgt, so durch den Amtsvorgänger Maltzews, den Propst Vassilij Pollisadov im Jahre 1849 als ein "Auszug aus der Liturgie des Heilg. Johannes Chrysostomos, zum Gebrauch für die orthodoxe Gemeinde der russischen Colonie Alexandrowka bei Potsdam", Berlin, 31 S. Es war als Auszug unzureichend und zu Beginn derr Tätigkeit Maltzews bereits vergriffen.
21) Ein ähnliches Urteil hätte für die Zeitschrift "Stimme der Orthodoxie" zu gelten. Dieses Blatt erscheint, obwohl in deutscher Sprache, fremdartig für den deutschen Leser. Der Wille zu einer Mitteilung an Menschen einer anderen Konfession und Lebenswelt erscheint auch hier gebrochen durch ein Verständnis, dem im Letzten die Gabe fremd ist, wie es Paulus formuliert, "den Griechen ein Grieche und den Juden ein Jude zu sein". Vgl. dazu die Kritik der bisher erscheinenden Nummern in der Zeitschrift des Moskauer Patriarchats 1961, Nr. 11, S. 78-80.
22) N.W.Prokovskij, in: Die göttliche Liturgien, Jubiläumsausgabe, Anhang, S. 6.
23) Oktoichos, S. Xf.
24) Man wird zu beachten haben, dass gegen Ende des 19. Jahrhunderts das ökumenische Gespräch als ein Unionsgespräch, in den späteren Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkriege dagegen als ein Gespräch über mögliche Arbeitskontakte und gemeinsame Aufgaben geführt wurde. Der schwierigste Teil des ökumenischen Gesprächs war demnach zunächst fälschlich an den Anfang gerückt worden. Diesen Fehler begangen zu haben, trifft nicht Maltzew allein, sondern viele, die auf den verschiedensten Seiten an diesem Gespräch vor der Jahrhundertwende und um die Wende teilnahmen.
25) Oktoichos, S. XV.
26) Oktoichos, S. XIV.
27) In dieser Formulierung bringt Maltzew zum Ausdruck, dass die orthodoxe Kirche wohl der Marienverehrung und dem Inhalt des Dogmas von 1854 zuzustimmen vermag, nicht jedoch formal auf Grund der Tatsache, dass es nicht in einem ökumenischen Konzil deklariert worden ist: Inhaltlich jedoch hat das Dogma von der Immaculata conceptio nicht die gleiche trennende Bedeutung wie der Zusatz des "Filioque" zum Symbol und die Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes.
28) Oktoichos, S. XX. In längeren folgenden Ausführungen setzt sich Maltzew mit der Berechtigung des Anspruchs der apostolischen Sukzession der anglikanischen Bischöfe negativ auseinander. Er unterstreicht das durch den Hinweis darauf, dass die Ordination in der Anglikanischen Kirche kein Sakrament, sondern wie in allen Reformationskirchen nur eine kirchliche Handlung sei. Der Hinweis auf die Zahl der Verminderung der Sakramente in der Anglikanischen Kirche dient ihm dazu, dieses Verständnis der fehlenden Sukzession bei den Anglikanern zu unterstreichen, S. XXff. – Dies entspricht der von Papst Leo XIII. dazu eingenommenen Position, vgl. Kattenbusch, Theologische Literaturzeitung 1898, Nr. 18, Sp. 492.
29) Oktoichos, S. XXVIII.
30) Oktoichos, S. XXXIII.
31) Oktoichos, S. XXXIV.
32) Oktoichos, S. XXXV.
33) Die russische Kirche, S. 9.
34) Die russische Kirche, S. 9.
35) Die russische Kirche, zweite Widerlegung, S. 4f.
36) Oktoichos, S. XXXVII.
37) Oktoichos, S. XLff.
38) Oktoichos, S. XLII.
39) Die russische Kirche, Widerlegung der Abhandlung von Dr. Paul Irgen, Berlin 1893, S. 10.
40) Die russische Kirche, zweite Widerlegung der Polemik des Herrn Paul Irgen.
41) Liturgikon, S. IXff.
42) Oktoichos, S. XXXI.