Gedanken zur
christlichen Spiritualität aus östlicher und westlicher Sicht
(Berdjaev/Bambauer) 9
Anmerkungen (Fortsetzung)
21) N.Berdjajew, Existenzielle Dialektik des
Göttlichen und Menschlichen, München 1951, S. 2. Zit. Berdjajew, Existentielle
Dialektik des Göttlichen und Menschlichen. Es war Berdjajews Bemühung, sowohl
in seiner "Existentiellen Dialektik des Menschlichen und Göttlichen"
als auch in "Wahrheit und Offenbarung" diese Frage zu behandeln.
Berdjajew hält es für eine zeitgebundene und überwundene Bewusstseinsstufe, die
Offenbarung so zu verstehen, dass man auf Gott etwa die sozialen Kategorien von
Herrschaft und Knechtschaft übertrug, schlechte anthropomorphe und soziomorphe
Betrachtungsweisen oder auch den Begriff der Kraft anwandte, und es so zu einer
Entstellung der Offenbarung aufgrund eines eingeschränkten Bewusstseins und
unvollkommener Auffassungsgabe kam. Hier bricht sich die Offenbarung, die
fortschreiten will, hinsichtlich ihrer Aufnahme "in einer beschränkten und
grausamen menschlichen Umwelt". Freilich übersah Berdjajew in seiner
permanenten Ablehnung der Objektivierung des Geistes "im Fleisch"
(Joh 1,14), dass die Offenbarung ständig, zu allen Zeiten, in allen Sprachen
und Kulturen als auch im Einzelmenschen und dessen individuellem Verständnis
dieser Strahlenbrechung unterliegen muss, um lebendig zu bleiben. Das göttliche
Wort bzw. der Geist wollen sich im Offenbarungsvollzug des gesprochenen und
gehörten bzw. gelesenen Wortes ständig neu in geschichtlich unterschiedlichen
Situationen den Menschen aller Zeiten und Sprachen vermitteln und verständlich
machen. So ist der Vollzug der Offenbarung ein sich ständig im Geist
vollziehender Prozess und kann nicht auf ein einmaliges Faktum eingegrenzt
werden. So vollzieht sich in der Inkarnation des Wortes gerade auch unter den
Bedingungen der Endlichkeit eine fortwährende Objektivierung des (unendlichen)
Geistes. Wäre dies nicht so, dann könnte auch die Inkarnation des göttlichen
Logos keine beständige sein. Hier liegt m.E. ein gravierender Denkfehler
Berdjajews vor, der theologisch korrigierbar ist. Dieser Fehler gründet auch in
seinem unablässigen Bestehen auf dem Gedanken der Objektivierung, obwohl
ihm deutlich geworden sein müsste, dass ohne Objektivierung des Geistes in
seine Gestalten und unterschiedlichsten Ausprägungen weder Sprache noch
Kommunikation, weder Denkprozesse noch zu artikulierende Gedanken möglich sind.
Die Objektivation ist die Folge der geistigen Differenzierung und
Individualisierung, ohne die die Bewusstseinsentwicklung der Menschheit keine
Fortschritte gemacht hätte. Diese Differenzierung schließt natürlich eine
universalistische Sicht nicht aus. So ist N.Berdjajew also kritisch entgegen zu
halten, dass das Leben nicht nur aus "schöpferischen Akten" besteht
(hier wusste er sich M.Scheler und H.Bergson nahe), auch wenn er in jeder
Objektivation schon eine unzulässige Versteinerung des Geistes sieht. W.Schulz
sagt: "Objektivieren bedeutet gerade, dasjenige, was nicht von sich aus
schon Objekt ist, zum Objekt feststellen, d.h. es so zurechtmachen, dass es wie
ein Ding erfassbar wird. Das Objektivieren ist ein Grundzug der Subjektivität"
(Schulz, Ich und Welt, S. 23). Deshalb, aufgrund der Objektivation,
interessierten Berdjajew seine einmal geschriebenen Bücher nicht mehr. Sie
waren schon versteinerter Geist. Ihn faszinierte nur der Moment der
schöpferischen Ekstase. In ähnlicher Weise wie Kant in seiner Kritik der reinen
Vernunft von den Kategorien handelt, kann Sri Aurobindo sagen: "Wenn sie
[die reine Vernunft] in ihrem farblosen strengen Licht Zeit und Raum
betrachtet, weist sie darauf hin, dass beide Kategorien des Bewusstseins sind,
Bedingungen, unter denen wir unsere Wahrnehmung der Phänomene ordnen. Wenn wir
auf das [raum- und zeitlose] Sein an sich schauen, verschwinden Zeit und
Raum" (a.a.O., S. 92). Doch auch schon das "Schauen" ist ein
"zeitlicher" und ein "räumlicher" Vorgang – es sei denn –
wie Aurobindo sagt: es gibt keine "räumliche" Ausdehnung, es gibt
keine "zeitliche", sondern nur eine "psychologische" Dauer.
So versteht er hier "Ewigkeit" als den alles in sich enthaltenden,
neuen Augenblick und "Unendlichkeit" als den alles durchdringenden
Punkt "ohne räumliche Größe". Mental und Sprache haben ihre Grenze
überschritten. Es wird eine Wirklichkeit postuliert, in der die konventionellen
Vorstellungen und notwendigen Widersprüchlichkeiten "in eine
unbeschreibliche Identität verschwinden" (a.a.O., S. 93). So wird das
"undefinierbare, unendliche, zeitlose und raumlose Sein ein reines
Absolutes" ohne Quantität und Form. Dieses reine Sein als Absolutes ist
"durch unser Denken unerkennbar". Dennoch enthalten alle Dinge in
sich das Absolute, genauso wie – im heideggerschen Sinne – das Seiende
das Sein in sich enthält, ohne mit ihm identisch zu sein.
22) Berdjajew, Die Philosophie des freien Geistes, S.
110.
23) Sri Aurobindo, Das Göttliche Leben, Gladenbach
1991, Bd. I, 1, S. 161f. Zit. Aurobindo, Das Göttliche Leben, Bd I, 1.
24) Berdjajew, Existentielle Dialektik des Göttlichen
und Menschlichen, S. 21.
25) N.Berdjajew, Die Bestimmung des Menschen, Bern
1935, S. 22. Zit. Berdjajew, Die Bestimmung des Menschen.
26)
Aurobindo, Das Göttliche Leben, Bd. I, 1, S. 79f.
27)
Aurobindo, Das Göttliche Leben Bd. I, 1, S. 59.
28) Vgl. Ott, Thomas Merton, S. 110.
29) Berdjajew, Die Philosophie des freien Geistes, S.
117.
30) Die Philosophie des freien Geistes, S. 119. Vgl.
auch: Berdjajew, Versuch einer eschatologischen Metaphysik, Waltrop 2001, S.
99, A. 172. Nach Lama A.Govinda wird im Buddhismus dieses "universelle
Tiefenbewusstsein" als alaya vijnâna, als die "Schatzkammer
des Bewusstseins" bezeichnet, deren Inhalte wir uns zwar nicht bewusst
sind, die aber den größten Teil des Bewusstseins umfasst. Nach Govinda hat K.
Graf Dürckheim in seinen Schriften auf den divinen und göttlichen
Charakter dieses Tiefenbewusstseins hingewiesen als den Urquell allen Seins,
ohne den der Intellekt nur zerstörend wirken kann" (Lama A.Govinda,
Durchbruch zur Transzendenz, in: "Transzendenz als Erfahrung",
Festschrift für Karlfried Graf Dürckheim, Weilheim 1966, S. 260-273, hier:, S.
262f. Zit. Govinda, Durchbruch zur Transzendenz.).
31) Berdjajew, Die Philosophie des freien Geistes, S.
121.
32) G.W.F.Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt
1973, S. 52. Zit. Hegel, Phänomenologie des Geistes.
33) Thomas Merton, Weisheit der Stille – Die
Geistigkeit des Zen und ihre Bedeutung für die moderne Welt, München 1975. Zit.
Merton, Weisheit der Stille. Vgl. Ott, Thomas Merton, sowie zu seiner
Biographie: Thomas Merton, Der Berg der sieben Stufen – Die Autobiographie
eines engagierten Christen, Zürich 1990.
34) Merton, Weisheit der Stille, S. 71.
35) Merton, Weisheit der Stille, S. 63.
36) Ott, Thomas Merton, S. 26. Nach E.Ott sah T.Merton
den Christen in einer doppelten Identitätserfahrung: "Er erfährt in sich
angelegt und wirksam die Identität des ersten, alten, "natürlichen"
Adam, und er weiß sich zugleich bezogen auf seine Identität als eines erlösten,
geheiligten, "neuen", "transzendenten" Menschen"
(a.a.O., S. 50).
37) Merton, Weisheit der Stille, S. 56f. Vgl. dazu
auch den Hinweis: "Wenn die Identität des Christen eine Neuschöpfung durch
die Liebe Gottes ist, dann kann der Christ nur durch die tiefste
Nicht-Identitäts-Erfahrung hindurch zur neuen, wahren Identität kommen"
(Ott, Thomas Merton, S. 67). Das erfahrene "Nichts" ließe sich als
eine solche "Nicht-Identitäts-Erfahrung" qualifizieren.
38) Merton, Weisheit der Stille, S. 128.
39) D.T.Suzuki (1870-1966), Der westliche und der
östliche Weg, Frankfurt 1957, S. 35. Der Westen verdankt Suzuki die ersten
einführenden Schriften über den Zen-Buddhismus. Ähnlich formuliert Lama
A.Govinda, wenn er vom "zeit- und raumlosen Nullpunkt" spricht,
"jener inkommensurablen metaphysischen Leere (śūnyatā), in der die Fülle
aller Schöpfungskraft beschlossen liegt" (Durchbruch zur Transzendenz, S.
266). Zu den Beziehungen M.Heideggers zur Sicht des Zen und der Philosophie
K.Nishitanis vgl. auch: Hans Waldenfels, Absolutes Nichts – Zur Grundlegung des
Dialogs zwischen Buddhismus und Christentum, Freiburg 1976, S. 102-105.
K.Albert, Mystik und Philosophie, erläutert: "Während aber japanische
Philosophen längst Zugänge zur europäischen und amerikanischen Philosophie
gefunden haben, ist die Philosophie Japans uns noch sehr fremd und
verschlossen. So schreibt Eugen Herrigel, der sich intensiv um ein Verständnis
der japanischen Philosophie bemüht hat: 'Als ob es sich tieferem Eindringen
widersetze, stößt das ahnend erschließende Sicheinfühlen nach wenigen Schritten
schon auf unüberwindliche Schranken. In undurchdringliches Dunkel gehüllt, muss
das Zen als das seltsamste Rätsel erscheinen, welches ostasiatisches Geistesleben
aufgegeben hat: unlösbar und dennoch unwiderstehend anziehend'" (S. 49).
40) S.Hisamatsu, Die Fülle des Nichts. Vom Wesen des
Zen, Pfullingen o.J. Zit. Hisamatsu, Die Fülle des Nichts.
41) Hisamatsu, Die Fülle des Nichts, S. 20. Eine
ähnliche Beobachtung machte auch Carl Albrecht, wenn er in seinem leider viel
zu wenig beachteten Werk "Das Mystische Wort", Mainz 1974, zit.
Albrecht, Das Mystische Wort, bemerkt: "Es [das in der Versenkung
schauende Ich] ist erhoben in die übergroße Klarheit des Bewusstseins, vertieft
in den Zustand durchdringener und umfassender Einheitlichkeit, in regloser
Betrachtung der langsamen und durchsichtigen Vorgänge, die sich in der
Innenschau ereignen. Daraus ergibt sich: die Versunkenheit ist der klarste und
hellste Zustand menschlichen Bewusstseins, den wir kennen [. . .]. Das
Bewusstsein erleidet eine Entäußerung vom Gegenständlichen […]. Das Ich
gibt sein Gegenüber auf. Es steht in reiner Zuständlichkeit, entfärbt und
entbildert, in klarer Leere, in bewegungsloser Ruhe. Seine
Reglosigkeit ist dem Erlebnis der Objekt-Subjekt-Spaltung in einem gewissen
Sinn enthoben. Als ein Ich, das stets einem Etwas gegenüber gestanden hat und
von irgendetwas bestimmt worden ist, löst es sich auf; es geht zugrunde. Doch
so herausgelöst und entäußert vermag es erst, ruhig zu werden, sich der Ruhe
anheimzugeben und in den Stand der Ruhe zu treten" (S. 50). Es ist
hier nicht der Ort, die von C.Albrecht in den Disziplinen der Psychologie,
philosophischen Anthropologie, Erkenntnistheorie, Fundamental-Ontologie und
theologischen Anthropologie in den Blick genommenen weitreichenden und sich wie
ein "Sprengkeil" (S. 91) auswirkenden Konsequenzen darzustellen.
42) Hisamatsu, Die Fülle des Nichts, S. 23f.