Gedanken zur christlichen Spiritualität aus östlicher und westlicher Sicht (Berdjaev/Bambauer) 8

 

 

Berdjajew weist mit Recht darauf hin, dass eine völlige Ablehnung der Immanenz und die einseitige Anerkennung der absoluten Transzendenz zum Deismus und zur Leugnung der Offenbarung führen müsse, da kein Gegenüber da sei, dem sich Gott offenbaren könne. "Der reine Transzendentismus ist dualistischer Bruch zwischen der göttlichen und menschlichen Welt; er macht das Gottmenschentum unmöglich" (S. 116). Diesen extremen Transzendentismus, die unendliche Trennung und Entfernung zwischen Gott und Mensch, wollte Berdjajew überwinden, um nicht beim Agnostizismus, einer völligen Vereinsamung des Ich, zu enden. Berdjajew unterschied den von ihm apostrophierten Immanentismus des Göttlichen von Phänomenalismus und Positivismus seiner zeitgenössischen Philosophie.

Einen Dualismus kritisierte er mit Schärfe auch an der dialektischen Theologie Karl Barths: "Auch die jüngste und interessanteste Form des europäischen Protestantismus, die dialektische Theologie Karl Barths und seiner Anhänger, endet in der Verneinung des Theoandrismus, des Gott-Menschentums. Für Barth ist Gott alles und der Mensch nichts. Barth ist Dualist und kein Monist, da er eine Absonderung Gottes vom Menschen fordert, eine Kluft, die den einen vom anderen trennt. Aber behaupten, dass der Mensch nichts und Gott alles, die einzige Wirklichkeit ist, heißt eine bestimmte Form des Monismus, einen verschleierten Monismus, ja eine Art Pantheismus annehmen. Damit weder der Monismus noch der Pantheismus gilt, darf der Mensch kein Nichts sein, muss man ihm die menschliche Würde und menschliche Freiheit zugestehen"67).

Auch Berdjajews Kritik der deutschen Philosophie des Idealismus, die er als bedeutsamste Erscheinung der europäischen Philosophie betrachtet, fällt – zumindest in der hegelschen Ausprägung – unter das Verdikt des Monismus. In seiner Beschreibung dessen, was der deutsche Idealismus als "Vernunft" qualifiziert, sieht der russische Denker bei Hegel "nicht die menschliche Vernunft, die erkennt, sondern die göttliche, denn der Akt der Erkenntnis, der religiöse Akt, ist nicht ein solcher des individuellen Menschen, sondern des allgemeinen [Welt-] Geistes [oder des "Absoluten"]. Man kann die Philosophie Hegels, die ein Abschluss [des deutschen Idealismus] gewesen ist, interpretieren als die Verkündigung entweder eines endgültigen Aufgehens des Göttlichen im Menschlichen und als eine Ausgeburt des menschlichen Hochmuts, oder aber eines nicht minder endgültigen Aufgehens des Menschlichen im Göttlichen und als eine Verneinung der menschlichen Persönlichkeit. Beide Deutungen sind gleichermaßen gerechtfertigt"68).

Es scheint geboten, sich der wichtigen Verhältnisbestimmung von Philosophie und Mystik zuzuwenden, wie es von K.Albert schon ansatzweise vorbildlich geschehen ist. Es wäre zu untersuchen, inwieweit sich die Philosophie einem mystischen Ursprung verdankt. Philosophie ist, insofern sie ein mystisches Ziel haben soll, mehr als nur eine "akademische" Angelegenheit. Sie hat als – nach K.Albert – mit der Mystik verbundene Disziplin eine entscheidende Bedeutung für das Leben des einzelnen Menschen.

Nach K.Albert hat Friedrich Nietzsche in "Jenseits von Gut und Böse" einmal von der "wunderlichen Familienähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophierens" gesprochen. Dies deutet mit darauf hin, dass trotz mancher Gegenstimmen und Widerstände "wenn auch oft nur untergründig, eine Lehre von der Seinseinheit und der Erfahrung dieser Seinseinheit, lebendig geblieben [ist], und zwar gerade bei den Denkern, die dem Philosophieren neue Anstöße gegeben haben"69). Zu ihnen gehören die bedeutenden Denker Indiens wie Sri Aurobindo, aber ebenso auch diejenigen Europas, die sich einer Verbindung von Mystik und Philosophie verpflichtet wussten. "Vielleicht ist die Zeit für ein Philosophieren wiedergekommen, das sich seines mystischen Ursprungs und seines mystischen Ziels nicht mehr schämt"70).

Nicht anders sah es von der Sache her der englische Psychoanalytiker Ronald Laing: "Unsere Zeit ist mehr als durch irgend etwas anderes gekennzeichnet durch ihren Drang, die äußere Welt zu kontrollieren, und durch eine fast totale Außerachtlassung der inneren Welt. Wenn man die Evolution der Menschheit an der Kenntnis der äußeren Welt mißt, dann sind wir in vieler Hinsicht fortschrittlich. Nehmen wir die innere Welt als Maßstab und die Einheit von Innerem und Äußerem, dann muss das Urteil ganz anders ausfallen"71).

Wenn wir Laing fragen, woher dieser Zustand rührt, so gibt er die lapidare Antwort: "Das Außen ohne Beleuchtung von innen befindet sich im Zustand der Dunkelheit. Wir leben in einem Zeitalter der Dunkelheit. Der Zustand äußerer Dunkelheit ist ein Zustand der Entfremdung vom inneren Licht (nach M.Eliade)" (S. 130). Laing konstatiert, dass im Laufe der letzten tausend Jahre tiefgreifende Veränderungen in der Erfahrung des Menschen stattgefunden haben: "Alles deutet darauf hin, dass der Mensch Gott erfahren hat. Glaube war nie eine Frage des Vertrauens darauf, dass Gott existierte, sondern des Vertrauens in seine 'Präsenz', die erfahren wurde und von der man wusste, dass sie existierte als eine in sich gültige Gegebenheit" (S. 131). In der Zeit des Defizits dieser Präsenz-Erfahrung scheint es nach R.Laing wenige Menschen zu geben, die wie einst Paulus zum Glauben durch Erfahrung gebracht wurden. "Diese direkte Erfahrung war in sich gültig" (S. 132). Wenn heute von den Menschen ein Glaube oder ein Vertrauen in eine Realität erwartet wird, die nur noch wenigen evident ist, so ist mit Laing auf das Prophetenwort des Amos hinzuweisen, dass eine Zeit kommen wird, in der ein Hunger im Lande herrscht, "nicht ein Hunger nach Brot oder ein Durst nach Wasser, sondern nach dem Wort des Herrn zu hören" [Amos 8,11]. "Diese Zeit ist nun gekommen. Es ist unser Zeitalter" (S. 133). Woher kommen die helfenden Kräfte? R.Laing sieht sie dort, wo die wahre Gesundheit die "Auflösung des normalen Ego, jenes falschen Selbst, das unserer entfremdeten sozialen Realität völlig angepasst ist", bewirkt. Er erwartet das "Auftauchen des "inneren", archetypischen Vermittlers, durch diesen Tod [des Ego] eine Wiedergeburt". Insofern bleibt auch das Ego, das sich – auch im Sinne des "Nichts" oder der "Vernichtung" – wird opfern müssen, "nun Diener des Transzendenten und nicht mehr sein Verräter" (S. 133). Dass so etwas wie "mystische" Erfahrungen wieder in den Blickpunkt treten, hat seinen tieferen Hintergrund in der verfehlten Konstellation der Beurteilungskriterien, wie sie eine verengte, unmetaphysisch gewordene Weltsicht darbietet.

Der Philosoph Georg Scherer liefert eine zutreffende Zeitdiagnose: "Zahlreiche der heutigen Beiträge zur Intelligenz, Rationalität, Mensch- und Tiervergleich, Gehirn und Computer, Neurophysiologie und Geist, Erkenntnis und Selektionsvorteil usw. kranken an einer vorgängigen Beschränktheit in der Sicht des Geistes. Der reduktionistische Gehalt mancher Theorien entspricht einer apriorischen Reduktion der Aufmerksamkeit für die Fülle der Phänomene des geistigen Lebens mit seinen interpersonalen, ethischen, ästhetischen, metaphysischen und mystischen Dimensionen. Diese, vor allem die Mystik, bilden heute ein notwendiges Korrektiv der Verkürzungen, denen die Sicht des Menschen immer mehr unterliegt […]. Die mystische Erfahrung bedeutet darum als überbegriffliche Teilhabe an der Urwirklichkeit zugleich das Unterpfand der Rettung aus Tod, Entzweiung und nichtiger Banalität. So eröffnet die Mystik einen Weg zur Erlösung, zum Heil"72).

Wenn K.Albert und G.Scherer sich auf die Tradition der Mystik beziehen, die christlicher Verflachung einen fruchtbaren Ausweg zeigen, so treffen sie sich mit der Zeitdiagnose Thich Nhat Hanhs, der im Schlusskapitel seines Buches "Spiritualität contra Technologie" bemerkt: "Wir müssen die besten Züge aller Traditionen in Ehren halten. Das Problem ist, dass viele dieser spirituellen Quellen im Westen wie im Osten vertrocknet sind. Weltweit sind die religiösen Institutionen mehr zu politischen als zu spirituellen Instanzen geworden. Sie sind von materiellen und politischen Interessen geleitet, verstricken sich in weltliche Konflikte und vernachlässigen ihre spirituelle Aufgabe […]. Die Religionen müssen sich darüber im klaren sein, dass wir uns alle danach sehnen, zu unserem wahren Menschsein zu finden. Die Kirchen müssen sich darauf verlegen, wieder Gemeinschaften ins Leben zu rufen, in denen ein sinnvolles und gesundes Leben möglich ist […]. Das wahre Glück liegt in einem Leben, das von der Einsicht erleuchtet ist, dass alle zusammengehören und miteinander verflochten sind. Dabei ist das Bewusstsein wichtig, dass wir zutiefst Verantwortung dafür tragen, wirklich wir selbst zu sein und unserem Nächsten zu helfen"73).

 

Anmerkungen

*Zur Erinnerung an den bedeutenden kontemplativen Denker Thomas Merton (1915-1968)

 

1) N.Berdjajew, Philosophische Autobiographie "Selbsterkenntnis", Darmstadt 1953, S. 233. Zit. Berdjajew, Selbsterkenntnis.

2) Berdjajew, Selbsterkenntnis, S. 238f. Wenn Berdjajew das anthropologische Geheimnis im Mit-Schaffen des Menschen mit Gott sieht, das er in seinem Werk "Der Sinn des Schaffens" breit entfaltet hat, so kommt diese Sicht des korrespondierenden Verhältnisses "Gott-Mensch" dem nahe, was auch bei dem Trappistenmönch T.Merton einer der Zentralgedanken war: "Das Leben in Christus ist Leben im Geheimnis des Kreuzes. Es ist nicht nur eine verborgene übernatürliche Teilnahme am göttlichen Leben in der Ewigkeit, sondern eine heilige Handlung, in welcher Gott selber in die Zeitlichkeit eingeht und – unter Mitwirkung der Menschen, die seinem Anruf geantwortet haben – das Werk der Erlösung vollzieht. Glaube ist antwortendes Tun in der Nachfolge Jesu (so bei Elisabeth Ott, Thomas Merton – Grenzgänger zwischen Christentum und Buddhismus, Würzburg 1977, S. 27. Zit. Ott, Thomas Merton).

3) Berdjajew, Selbsterkenntnis, S. 248. Vgl. auch. N.Berdjajew, Der Sinn des Schaffens, Tübingen 1927, zit. Berdjajew, Der Sinn des Schaffens, wo der Denker seine Visionen in voller Breite entfaltet und gerade auch dem Schaffen im christlichen Kontext seinen ihm angemessenen, bis heute wohl kaum akzeptierten Platz einräumt. Da Berdjajew stets dem schöpferischen, nicht objektivierbaren Akt den Vorrang vor dem Sein zugesteht, wird er auch zum "Ich" ein anderes als ein "das Ich wie ein Objekt vorstellendes" Verhältnis haben. Da es ihm ja auch darum geht, das Subjekt-Objekt-Verhältnis zu überwinden, muss bei ihm die Subjektivität eine ähnliche Wertung wie im deutschen Idealismus erfahren. Bei Schelling wird dieses Ich im Gegensatz zu seiner früheren philosophischen Betrachtung als "Substanz" (oder "subjectum", griech. hypokeimenon) jetzt vielmehr als "Vollzug" betrachtet, wobei Schelling ausführt: "Der Begriff des Ich kommt durch den Akt des Selbstbewusstseins zustande, außer diesem Akt ist also das Ich nichts, seine Realität beruht nur auf diesem Akt, und es ist selbst nichts als dieser Akt. Das Ich kann also nur "vorgestellt" werden als Akt überhaupt, und es ist sonst nichts" (Zitat bei: Schulz, Ich und Welt. Philosophie der Subjektivität, Pfullingen 1979, S. 15, zit. Schulz, Ich und Welt). Ähnlich sahen es auch Fichte und weitere Vertreter des deutschen Idealismus: Die Subjektivität als das Unbedingte und zugleich Ebenbild Gottes kann "schlechterdings nicht zum Ding, zur Sache werden" (Schulz, Ich und Welt, S. 15). Da man Gott in der Religion stets als eine für sich seiende Person begreifen wird, kann in der Philosophie das mit der Idee Gottes gemeinte Phänomen etwa bei Hegel nur im Denken, d.h. als absoluter Geist begriffen werden.

4) N.Berdjajew, Die Philosophie des freien Geistes, Tübingen 1930, S. 59. Zit. Berdjajew, Die Philosophie des freien Geistes.

5) Berdjajew, Die Philosophie des freien Geistes, S. 78f.

6) Berdjajew, Die Philosophie des freien Geistes, S. 79f. Vgl. zur Leiblichkeit: Jürgen Moltmann, Gott in der Schöpfung - Ökologische Schöpfungslehre, Gütersloh 1993, S. 259ff. Zit. Moltmann, Gott in der Schöpfung.

7) Berdjajew, Der Sinn des Schaffens, S. 137f.

8) Vgl. G.F.W.Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. 1, Frankfurt 1982, S. 97-100.

9) Vgl. zu dieser Sicht F.C.Oetingers: Moltmann, Gott in der Schöpfung, S. 248ff.

10) Nishitani, Was ist Religion?, S. 162. L.Frambach (s. Anm. 11) macht darauf aufmerksam, dass bei Nishitani im Unterschied zur relativen Ver-Nichtung durch das Nichts des Nihilum das Nichts des Grundes, die śūnyatā-Leere, als grundlegend kreativ bestimmt ist (S. 159, vgl. Nishitani, Was ist Religion?, S. 207, wo die Leere (das Nichts) das Feld der Ichtung genannt wird). Vgl. dazu auch die Idee des schöpferischen Nichts, dargestellt am Beispiel E.Neumanns in: N.Berdjajew, Wahrheit und Offenbarung, Waltrop 1998, S. 67-78.

11) Karl Albert, Zen und die Philosophie Japans, in: Mystik und Philosophie, Sankt Augustin 1986, S. 53. Zit. Albert, Mystik und Philosophie. Vgl. auch das instruktive 2. Kapitel "Zen" in: Ludwig Frambach, Identität und Befreiung in Gestalttherapie, Zen und christlicher Spiritualität, Petersberg 1993, S. 115-172. Zit. Frambach, Identität und Befreiung.

12) Albert, Mystik und Philosophie, S. 53.

13) D.T.Suzuki, Die große Befreiung, Zürich 1972, S. 82. Zit. Suzuki, Die große Befreiung.

14), Sri Aurobindo, Das Göttliche Leben, Gladenbach 1991, Bd. I, 1, S. 203f. Zit. Aurobindo, Das Göttliche Leben.

15) Nishitani, Was ist Religion?, S. 187.

16) Nishitani, Was ist Religion?, S. 243f.

17) Nishitani, Was ist Religion?, S. 162.

18) Nishitani, Was ist Religion?, S. 172.

19) Albert, Mystik und Philosophie, S. 127.

20) Vgl. dazu vor allem: S.Ueda, Die Gottesgeburt in der Seele und der Durchbruch zur Gottheit. Die mystische Anthropologie Meister Eckharts und ihre Konfrontation mit der Mystik des Zen-Buddhismus, Gütersloh 1965.

 

Fortsetzung