Gedanken zur christlichen Spiritualität aus östlicher und westlicher Sicht (Berdjaev/Bambauer) 7

 

 

Auch derjenige, der einst als "ungebundener" Wanderprediger sagte "Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester; der Menschensohn aber hat keine Stätte, wo er sein Haupt hinlegen kann" (Mt 8,20), hat diese Heimatlosigkeit gelebt, die sich für Berdjajew mit dem Begriff von Genialität verbindet, da auch er – Jesus Christus – jede sichere Lage seinem Auftrag zum Opfer brachte. Er baute sich kein Haus, er richtete sich nicht in dieser Welt häuslich ein, sondern durchwanderte diese "Welt" in heiliger Unangepasstheit, er stieß immer wieder mit dem Boot von den Ufern ab und ging über die Grenzen dieser "Welt" leiblich und geistig hinaus im Wissen darum, dass "sein Reich nicht von dieser Welt" sei (Joh 18,35).

Der Mensch, der im freien Zen-Geist lebt, wird von H.Dumoulin folgendermaßen charakterisiert: "Er ist […] ohne Wohnplatz, der Ort seiner Tätigkeit inmitten aller Umstände ist Nicht-Ort. Deshalb ist er um so ferner, je mehr man ihn sucht, desto weiter weicht er zurück, je mehr man nach ihm verlangt. Das ist, was Geheimnis genannt wird" (zit. von Frambach, Identität und Befreiung, S. 161). So wird in der Zen-Tradition der "wahre Mensch" als geistesgegenwärtig bezeichnet, weil sein Geist an nichts haftet und offen ist für den Anspruch des Jetzt. Er weiß: "Alles ist augenblicklich, jetzt, da ist keine Zeit". Sein Geist ist nicht festgelegt, sondern "Weg-Geist" (so Frambach, S. 162). Man wird bei diesen Zen-Aussagen an die von den Menschen erwartete "Präsenz" in dem Worte Jesu Christi erinnert: "Macht euch also keine Sorgen um den morgigen Tag. Denn der morgige Tag wird seine eigenen Sorgen haben" (Mt 7,34). Dieser Gedanke der "Präsenz" spielt bei T.Merton eine bedeutsame Rolle: "Das Paradies ist nie verlorengegangen und wird daher niemals wiedergewonnen. Wie Starez Sosima […] sagt, sobald wir es uns wünschen, das heißt sobald ich mir der Tatsache bewusst bin, ist das Paradies sofort bei mir, und die Erfahrung ist das Fundament, auf dem das Himmelreich gebaut ist. Die Eschatologie ist etwas, was niemals zu verwirklichen ist, und sie wird doch in jedem Augenblick unseres Lebens verwirklicht. Wir sehen sie immer vor uns, obwohl wir in Wirklichkeit immer in ihr stehen"58). Dies ist in gewissem Sinne der Gedanke, den wir mit der "präsentischen Eschatologie" verbinden: "Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Es kommt die Stunde, ja sie ist jetzt schon da, wo die Toten die Stimme des Sohnes Gottes hören werden, und die, welche auf sie hören werden, die werden leben" (Joh 5,25).

D.T.Suzuki führt aus: "Gemeinhin sind wir der Auffassung, Philosophie sei eine Sache des reinen Intellekts, und die beste Philosophie kommt daher aus einem Kopf mit den reichsten Anlagen an intellektuellem Scharfsinn und dialektischem Unterscheidungsvermögen. Aber das ist nicht der Fall. Gewiss, wer arm an intellektuellen Fähigkeiten ist, wird schwerlich ein guter Philosoph sein. Trotzdem reicht Intellekt allein nicht aus. Hinzukommen muss die tiefe Einsicht in die Natur des Menschen, und endlich auch muss der unbeirrbare Blick für die Wahrheit da sein. Und das alles muss im Wesen des Betreffenden eine Synthese eingehen […]. Wissen ist oberflächlich, solange es sich nicht mit persönlichen Erfahrungen verbindet – und keine Philosophie kann auf solchem unsicheren Grund [nur des Wissens] errichtet werden. Sicherlich gibt es, vermute ich, viele Gedankensysteme ohne die Basis realer Erfahrungen, doch sind diese wenig begeisternd. Sie mögen hübsch anzusehen sein, allein ihre Kraft, den Leser zu bewegen, ist gleich Null. Über welches Wissen der Philosoph auch immer verfügen mag, es muss seiner Erfahrung entstammen – und Erfahrung heißt 'sehen'"59).

Das nicht leicht zu erkennende oder besser: eigentlich unbeschreibbare Geheimnis des Zen, das sich in der Zentralerfahrung einer "Erleuchtung", des "Satori" enthüllt, liegt darin, dass der bis dahin dualistisch gebundene Geist, der nicht zur Erkenntnis gelangen kann, plötzlich von all seinen selbsterrichteten mentalen Begriffskonstruktionen befreit wird und man mit einer neuen, bis dahin nie gekannten geistigen Wirklichkeit konfrontiert wird, die sich im Menschen wie in einem Medium enthüllen will, aber dennoch so etwas wie "objektive" Wirklichkeit bleibt, weil sie schon immer da ist, nur der stets neuen Enthüllung und Aufdeckung bedarf. Dieser Tatbestand ist uns wichtig, um mit dieser sprachlichen Formulierung die eine Wirklichkeit nicht dualistisch in eine innere und äußere Form zu zerreißen. Diese Wirklichkeit umfasst – nun nicht mehr dualistisch geschaut – die Innen- und die Außenwelt, die sich zu einem Einzigen verbunden haben, wie überhaupt das Gefühl der Einheit von allem nun die neue Weltschau prägt. K.Albert beschreibt den Zustand der Weltsicht vor dem "Aufwachen": "Der Geist arbeitet seit dem Erwachen des Intellekts in der strengsten Zucht des logischen Dualismus und weigert sich, seinen eingebildeten Zwang abzuschütteln. Nie ist uns eine Möglichkeit begegnet, diese selbstauferlegte Schranke zu überschreiten. Nie können wir hoffen, ein wirkliches Leben der Freiheit zu leben, wenn es uns nicht gelingt, den Gegensatz von 'ja' und 'nein' zu durchbrechen" (Albert, Mystik und Philosophie, S. 52).

D.T.Suzuki versucht, dieses angesprochene Phänomen "Satori" noch präziser zu übermitteln, soweit es sich überhaupt sprachlicher Formulierung erschließt. "Satori mag definiert werden als intuitive Innenschau, im Gegensatz zu intellektuellem und logischen Verstehen. Wie auch die Definition lauten mag, Satori bedeutet Enthüllung einer neuen Welt, die im Wirrsal des dualistisch gebundenen Geistes unerkannt bleibt". Zen als spirituelle Befreiungserfahrung wird wörtlich auch mit "Erkennen" oder "Verstehen" übersetzt. Nach L.Frambach ist die treffendste Übersetzung "Erwachen". Kensho, zu deutsch "Wesensschau" ist eine andere japanische Bezeichnung, um diese "Große Befreiung" (Suzuki) zum Ausdruck zu bringen.

Diese "Enthüllung einer neuen Welt, die unerkannt bleibt", erinnert stark an das plötzliche Erkennen und Auffinden des "Reiches Gottes", einer innerweltlichen und dennoch "jenseitigen" Größe, die neue Erkenntnisorgane braucht, um sich finden zu lassen. "Satori" lässt sich ganz und gar nicht in einen Begriff verwandeln. Es ist so etwas wie ein Geschehen oder ein Ereignis, das unvermittelt hereinbricht. "Seine Ursachen, alle Vorbedingungen des Satori sind im Geiste und warten nur auf die Reife. Ist der Geist bereit, so genügt es, dass ein Vogel auffliegt, eine Glocke ertönt, und du kehrst sogleich in deine Urheimat zurück, das heißt, du entdeckst jetzt dein wahres Selbst. Von Uranfang an war dir nichts vorenthalten, alles, was du zu sehen begehrtest, hat all die Zeit vor deinen Augen gelegen, und nur du selbst verschlossest die Augen vor der Wahrheit"60). Insofern ist Zen eine Art von Wahrnehmung, "nicht etwa die Wahrnehmung eines besonderen Gegenstandes, sondern sozusagen das Empfindungsvermögen der wahren Wirklichkeit selbst" (Suzuki, a.a.O., S. 129). "Satori besteht nicht darin, irgendeinen vorausbedachten Zustand durch intensives Nachdenken zu erreichen. Es ist vielmehr die Erlangung eines neuen Blickpunktes für die Schau der Welt […]. Satori ist das überraschende Aufflammen einer bislang nicht einmal erträumten neuen Wahrheit im Bewusstsein. Es ist [vgl. dazu die Terminologie Berdjajews] eine Art geistiger Katastrophe [im Sinne einer Totalumkehr der Weltsicht und des Lebens, der Metanoia], die plötzlich eintritt, wenn viel Stoff an Begriffen und Beweisen aufgehäuft worden ist. Dieses Aufstapeln hat die Grenze an Tragfähigkeit erreicht, das ganze Gebäude stürzt in sich zusammen, und siehe, ein neuer Himmel öffnet sich weit dem Blick […]. Satori kommt unvermittelt über einen Menschen, wenn er fühlt, dass er sein ganzes Sein erschöpft hat. Religiös gesehen, ist es eine Wiedergeburt; intellektuell bedeutet es die Erreichung eines neuen Blickpunktes. Die Welt erscheint jetzt wie in einem neuen Gewand, das die ganze Hässlichkeit des Dualismus zudeckt, der nach buddhistischer Auffassung reine Täuschung ist"61). Dennoch bedarf diese plötzliche und neue Weltsicht in einer sich anschließenden Reflexion wiederum einer sprachlichen Aussageform, die der philosophischen Sprache kaum entbehren kann. Sowohl meditatives Widerfahrnis als auch die nachfolgende intellektuelle denkerische und sprachliche Verarbeitung können nicht auseinander gerissen werden und erweisen sich von unabdingbarer Notwendigkeit, da sie sich in einer Wirklichkeit vollziehen und nicht in unterschiedlichen Dimensionen von Schweigen und Sprache. Wenn wir uns die Frage stellen, welche Folgen diese "Umwendung" des Bewusstseins mit sich bringt, so hat darauf Karlfried Graf Dürckheim die Antwort gegeben: "Man muss weiterhin lernen, mit dem 'ganz Anderen', dem Wesen, in bewusste Fühlung zu kommen. Man muss lernen, es in seiner besonderen Qualität zu 'schmecken' und diese im Innesein zu bewahren. Aus den Augenblicken, in denen Sein beglückend im Innesein ist, muss man lernen, sich der Haltung bewusst zu werden, in der das Seins-Auge sich öffnen kann. Dazu dient vor allem die Erinnerung an Augenblicke jener gesamt-menschlichen Erschütterung, die für den Einbruch des Seins in das bisher ausschließlich vom gegenständlichen Bewusstsein beherrschte Dasein und für das plötzliche Aufgehen der Transparenz charakteristisch ist […]. Bleibende Transparenz setzt einen totalen Umbruch voraus. Der auf dem Wege notwendige Umbruch kann ein plötzlicher sein oder auch sich allmählich vollziehen, um sich dann in einem Sprung zu vollenden. Immer bedeutet er ein mehr oder weniger schmerzliches Lassen einer gewohnten Daseinsweise und Bewusstseinsform und ein Hindurchschreiten durch eine Zone großer Dunkelheit. Immer von neuem ist das schmerzliche Eingehen des Alten dem Aufgehen des Neuen vorgelagert"62). D.T.Suzuki interpretiert: "Und dieses Erwachen, etwas, das aus dem unbewussten Bereich heraufbricht oder herauskommt, wenn wir hoffnungslos und verzweifelt sind, wenn wir nicht wissen, was wir tun sollen, dieses Erwachen bewirkt das Licht, das plötzlich unseren Geist erhellt"63).

Vielleicht ist es sachgemäß oder angemessen, diese neue Weltsicht im Sinne der von Jesus von Nazareth proklamierten "Metanoia" mit der neutestamentlichen Erzählung von der Taufe Jesu Christi zu verbinden, wo in der Wirkung des Hl. Geistes sich Jesus Christus "die Himmel auftun" (Mt 4,16), mit der Schau und der Verwirklichung des "Reiches Gottes", dargestellt in den "alltäglichen" Gleichnissen vom "Schatz im Acker" und von der "kostbaren Perle" (Mt 13,44-46) oder dem eschatologischen Blick auf "einen neuen Himmel und eine neue Erde". Nicht umsonst wird das Phänomen der vor Augen liegenden Wirklichkeit mit dem Ausdruck von den "Geheimnissen des Reiches Gottes" (Mt 13,11) bezeichnet, die den blinden Augen und den tauben Ohren nicht zugänglich sind (Mt 13,14f). Demgegenüber spricht Jesus von Nazareth den Jüngern zu, dass "euere Augen selig zu preisen sind, weil sie sehen, und eure Ohren, weil sie hören" (Mt 13,16). Infolge des Geist-Empfangs setzt eine veränderte Weltsicht ein, weil sich das Empfindungs- und Erkenntnisvermögen verändert hat. Lama A.Govinda formuliert: "Mit der Verwandlung der Psyche aber beginnt die Verwandlung der "Welt", in der das Individuum lebt […]. Durch die Verwandlung des Bewusstseins wird also auch die erlebte Welt verwandelt"64).

Sri Aurobindo schreibt: "Unsere Natur sieht aber die Dinge immer durch zwei Augen, denn sie betrachtet sie doppelt als Idee und als Faktum. Darum ist für uns jeder Begriff so lange unvollständig und für den einen Teil unserer Natur so lange unwirklich, bis er zu einer Erfahrung wird" (Das Göttliche Leben I, 1, S. 78). "Wo immer eine Kontroverse zu sein scheint, geschieht sie nicht durch Diskussion, durch Dialektik oder den Gebrauch logischer Vernunft, sondern durch ein Vergleichen von Intuitionen und Erfahrungen, in denen die weniger erleuchteten den erleuchteteren, die engeren, fehlerhafteren oder weniger wesentlichen den umfassenderen, vollkommeneren und wesentlicheren wichen. Der eine Denker fragte den anderen: 'Was weißt du?' und nicht: 'Was denkst du?', auch nicht: 'Zu welchem Schluss ist deine logische Vernunft gekommen?'. Nirgendwo in der Upanishad finden wir eine Spur dessen, dass man zur Unterstützung der Wahrheiten des Vedanta auf das logische Vernunftdenken drängte. Offensichtlich waren die Weisen davon überzeugt, dass Intuition durch vollkommenere Intuition korrigiert werden müsse: dabei können die logischen Vernunftschlüsse nicht ihre Richter sein"65).

N.Berdjajew beschreibt in "Der Sinn des Schaffens" die Beziehung von Offenbarung und Schöpfertum: "Die Verbindung des Göttlichen und Menschlichen, des Religiösen und Philosophischen in der endgültigen Erkenntnis der einen Wahrheit wird nicht durch äußere Autorität und Unterordnung vollzogen, sondern durch einen innerlichen freien, schöpferischen Akt […]. Die religiöse Offenbarung für die Philosophie ist die Intuition des Philosophen. Gottes gnädige Hilfe bei der philosophischen Erkenntnis, ohne die keine ganze und endgültige Wahrheit erfasst werden kann, kann nicht zur Methode der Philosophie werden, sie kann nur Gnadengeschenk sein, das für den schöpferischen, heroischen Erkenntnisakt gewährt wird" (S. 48). "In mir muss sich nicht nur Gott und das Göttliche, sondern auch der Mensch, mein Menschliches erschließen, d.h. der Mensch muss in Gott geboren werden […]. Hierin liegt der Sinn des Christentums als der Religion der Gottmenschheit" (Berdjajew, Der Sinn des Schaffens, S. 137).

Wenn wir uns fragen, in welcher Dimension von Bewusstsein oder spiritueller Einheit, die sich etwa in christlicher Sicht dem Johannesevangelium verpflichtet weiß, sich diese Identität von Übereinstimmung vollziehen kann, so finden wir bei Sri Aurobindo als Antwort: Dies geschieht nicht im vordergründigen und äußeren "Ich", das an den physischen Körper gebunden ist, das geboren wurde und sterben wird, sondern es vollzieht sich – als ewiger Prozess – in jener uns belebenden subliminalen Lebenskraft, "die nicht eingezwängt ist in unsere engen Grenzen von physischer Geburt und Tod, sondern die unser wahres vitales Wesen hinter der [oberflächlichen] Lebensform ist, die wir unwissend für unser wirkliches Dasein halten" (Aurobindo, S. 251). Ebenso wie auch die neutestamentlichen Texte uns dazu anleiten wollen, zwischen dem "empirischen Ich" und dem ewigen "transzendenten Ich" zu unterscheiden, so gibt Sri Aurobindo hier eine Hilfestellung, diese Unterscheidung mitzuvollziehen. Während die äußeren Formen unseres Wesens auf das kleine ichhafte "egozentrische" Gehäuse unseres Daseins beschränkt ist, so zählen die Gestaltungen "unserer umfassenden wahren Individualität" (unser – johanneisch gesprochen – ewiges "Ich bin") zum verborgenen Teil unseres Wesens, "mit dem unsere Individualität unserer Universalität nahe ist". Aurobindo liefert eine zutreffende Zeit-Diagnose, wenn er sagt: "Die Krankheit der Welt besteht darin, dass der Einzelne seine wahre Seele nicht finden kann, und die Ursache an der Wurzel dieser Krankheit ist wieder, dass er, wenn er die äußeren Dinge ganz umfassen will, mit der wirklichen Seele der Welt, in der er lebt, nicht in Verbindung kommen kann" (S. 253). So sieht Aurobindo, dass die innerste, unzerstörbare Wesenheit, "die als psychische Person in uns Gestalt annimmt", dem Wanderer zwischen Geburt und Tod gleicht und "unsere äußeren Schichten sind nur sein vielfältiges, wechselhaftes Gewand" (S. 257): Dabei kann diese psychische Personalität aufblühen "als der Heilige, der Weise, der Seher" (S. 258). Es ergibt sich dann die Chance für die unmittelbare Erfahrung spiritueller Sympathie, Universalität und Einheit. Mag es auch letztes Ziel sein, alle empfundenen Gegensätze in einer All-Einheit aufgehen zu lassen, dennoch zentriert die Natur sich weiter um das Ich-Prinzip. Bei aller Sehnsucht nach supramentaler Schau, zu der Aurobindo hinführen möchte, bleibt dennoch mit ihm festzuhalten, was wenigstens in der westlichen Philosophie seit Descartes Maßstab wurde: "Eine gewisse Zentrierung im Ich ist die Grundlage, auf der wir unsere Erfahrungen und Beziehungen zusammenfügen inmitten der komplexen Kontakte, Widersprüche, Dualitäten, Zusammenhanglosigkeiten der Welt, in der wir leben. Diese Zentrierung im Ich ist unser sicherer Fels gegen das Anbranden des Kosmischen und des Unendlichen, unsere Verteidigung [mag man tiefenpsychologisch ergänzen: durch eine Inflation des Bewusstseins durch das Unbewusste]. Bei der spirituellen Umwandlung müssen wir aber diese Verteidigung aufgeben. Das Ich muss verschwinden" (Aurobindo, S. 261).

Offenbarung als Begegnung und Mystik als Ursprung der Philosophie

Es gehört zum Verständnis der Offenbarung zweifellos ein einander korrespondierendes Verhältnis: "Alle äußeren Ereignisse, äußeren Worte und Gesten sind für uns tot und undurchdringlich, wofern sie nicht innere Ereignisse, innere Worte bedeuten, wofern sie nicht aus der Tiefe des Geistes heraus entziffert werden. Erschlossen wird mir nur das, was in mir erschlossen wird […]. Das Evangelium kann man nur im Lichte der geistigen Ereignisse der eigenen inneren Erfahrung entziffern"66). Ebenso kann auch umgekehrt interpretiert werden: Wir können bestimmte spirituelle Erfahrungen, die wir gemacht haben, nur im Lichte biblischer Texte richtig deuten und entziffern. Diese können für uns zu einem hilfreichen Raster der Einordnung und Interpretation werden, weit über alle psychologische Kategorisierung hinaus. Wir benötigen gleichsam dieses "Raster", um einen zutreffenden Sinn in die Lebensereignisse zu bringen und sie mit dem biblischen Kontext zu verbinden. Der Sinn aber liegt nicht in den Vorgängen der Natur und ihren häufig undurchschaubaren Wirrungen oder Katastrophen, sondern allein der Geist vermag es, den Sinn zu erkunden und das vermeintlich Sinnlose dem Sinn zuzuführen. Ereignisse der Natur, die wir oft zu Recht als indifferent oder unethisch qualifizieren, erhalten erst ihren Stellenwert im Ganzen des Lebensprozesses, wenn sie in den Kontext der geistigen Interpretation gestellt werden. Nur so lassen sich ganz bestimmte Lebensumstände, Lebenskrisen oder auch Lebenskatastrophen sinnvoll tragen, ertragen und bewältigen. Eine rein emotionale, "natürliche" Bewältigung oder Sinndeutung genügt nicht. Dies ist nur die Sicht "von unten", aus der endlichen Perspektive. Die Natur gibt nicht immer die Antworten, die wir vom Geist erwarten.

Dass die Offenbarung eine dialektische Begegnung ist, muss noch einmal betont werden: "Die Offenbarung ist ein reziproker gottmenschlicher Vorgang, die Begegnung zweier innerlich verwandter Naturen. Es muss ein entsprechend günstiger Boden für die Aufnahme der Offenbarung bestehen, ein Boden, dem das Göttliche nicht fremd ist". (Berdjajew, a.a.O., S. 115). Offenbarung hat also auch ihre Voraussetzungen auf menschlicher Seite: "Die Offenbarung setzt den Glauben an den Menschen, an seine hohe Natur voraus, die auch die religiöse Erschütterung der Offenbarung, die Geburt Gottes im Menschen, die Begegnung des Menschen mit Gott möglich macht" (Berdjajew, S. 115). Allerdings ist auch darauf hinzuweisen, dass die Offenbarung, d.h. Gott in seinem Wirken am Menschen sich selbst den Boden für den Offenbarungsempfang und auch für die menschliche Antwort bereitet. Auch hier spielt die neuschöpferische Gnade die größte Rolle. Um dies einmal an einem biblischen Gleichnis zu verdeutlichen. Der verlorene Sohn geht am Schweinetrog in sich und erinnert sich an sein reiches, von ihm verlassenes Vaterhaus (Lk 15,15). Schon dieses "Sich Erinnern" ist das Werk des Vaters im Sohn. So denkt Gott sich selbst im Menschen, er erinnert sich an sich selbst als der in die Fremde gegangene und löst so die Heimkehr des Sohnes aus. Das, was als ein aktiver Schritt des Sohnes gedacht werden könnte, gründet in der barmherzigen Erinnerung des Vaters an den Verlorenen, der wohl kaum noch in der Lage war, die Kraft solcher Heimkehr in sich zu erwecken, da er geistlich tot war. Und dennoch wird ihm die Freiheit gelassen, diesen Schritt zu tun. Dennoch: der Sohn ist mit seinem Leid nicht allein. Der Vater legt es sich – in der Einheit mit dem Sohn – auch selber auf und trägt es mit.

 

 

Fortsetzung