Gedanken zur
christlichen Spiritualität aus östlicher und westlicher Sicht
(Berdjaev/Bambauer) 6
"Das echte Nichts bin ich selbst, es ist nicht
die Welt meiner Objekte. In dem Augenblick, da es [das Ich] zum Objekt wird,
ist es bereits ein Seiendes und somit etwas, das mich gefangen hält […]. Nur
wenn ich wirklich und wahrhaftig gar nichts bin, bin ich völlig ungefesselt und
unbegrenzt, frei und von nichts mehr befangen" (Hisamatsu, a.a.O., S. 27).
Von hier ließe sich eine Brücke schlagen zur paulinischen Aussage: "Nun
lebe nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir" (Gal 2,20). Ebenso
könnten wir Konvergenzen dort feststellen, wo von der Freiheit die Rede ist,
die der Buddhist in seiner "Nichts-Erfahrung", der Christ aber durch
Christus erfährt, wenn die erlebte "Wahrheit" ihn "frei"
von seinem Ego und von seiner metaphysischen Blindheit gemacht hat (Joh 8,32).
An dieser Stelle ist der Mensch, frei von aller "Ich-Verhaftung" und
Loslösung vom objekthaften Besitzdenken, wieder vollkommen Kreatur, d.h.
passives Geschöpf geworden, das nicht "in sich" Bestand hat, sondern
sich als ein so erfahrendes "Nichts" seinem Schöpfer bzw. der Güte
des Seins verdankt. Es erfährt sich als dieses "Nichts" in seiner
absoluten "Kreatürlichkeit". Es ist das von Hiob gegebene Bekenntnis
auf die empfangene Offenbarung Gottes. Er, der bis dahin Gott nur vom Hörensagen
kannte, kann nun sprechen: "Jetzt aber hat mein Auge dich geschaut. Darum
bekenne ich mich schuldig und bereue in Sack und Asche" (Hiob 42,5f). Auch
ihm ist in der Offenbarung Gottes das reine "Nichts" aufgegangen.
Erst in dieser "Vernichtung" seiner bisherigen Position und
Kreatürlichkeit wird sein inneres und äußeres Glück einer Wiederherstellung
zugeführt.
Den sowohl Buddhismus als auch Christentum bewegenden
Gedanken hat nachdrücklich H.U. von Balthasar herausgestellt, indem er von der
"Werkzeuglichkeit" der Kreatur spricht: "Gerade dann, wenn sie
am meisten Wahrheit und Herrlichkeit Gottes ausstrahlt, wenn Gott ihr am
immanentesten ist, gerade dann ist sie am wenigsten Inhalt, am meisten Schale
und Gefäß. Wenn Gott am transparentesten wird, muss das Geschöpf sich zum
Transparentesten machen. Wenn Gott das Geschöpf am höchsten in Liebe zu sich
erhebt, muss es sich am tiefsten in Ehrfurcht unter ihm demütigen: nur Knecht
und nur Magd des Herrn. Das Geschöpf wird also von sich aus dem Schöpfer und
seiner Offenbarung am meisten entgegenkommen, wenn es sich werkzeuglich von ihm
zu seinen Zwecken benützen lässt. Es wird dann am lebendigsten sein, durch die
Einwohnung göttlichen Lebens in ihm, wenn es sich am totesten stellt unter der
Hand des göttlichen Töpfers […]. Es wird deutlich, dass die absolute Wahrheit
zuletzt nicht in der Kreatur, sondern hinter und über ihr steht, und dass die
Geschöpfe ihr wahres "Wesen" (im Sinne der deutschen Mystik) nicht in
sich selber, sondern in Gott besitzen"48). Dass gerade auch der als
Werkzeug von Gott gebrauchte Mensch sich dann in seinem "Nichts" als
reine Kreatürlichkeit erfährt, stellt von Balthasar deutlich heraus, wenn er
bemerkt, dass das "aus Erscheinung und Wesen bestehende Geschöpf [...] in
dieser Weise gleichnishaft, nichtig und durchsichtig wird" (S. 270).
Weitere Beziehungen lassen sich herstellen zu dem
Jung-Schüler und jüdischen analytischen Psychologen Erich Neumann (1915-1960),
den C.G.Jung als einen seiner begabtesten Studenten bezeichnete und sehr
schätzte. Neumann hat sich in seiner bedeutenden Studie "Der mystische
Mensch"49) vom tiefenpsychologischen Standpunkt sowohl des
"Nichts" als auch der aus diesem "Nichts" hervorgehenden
schöpferischen Dimension angenommen und widmete sich in seinem Spätwerk vor
allem dem Thema der Kreativität. Sein Ziel in der genannten Studie ist es, eine
"mystische Anthropologie" zu entwerfen. Hier sieht er als den
Quellpunkt der psychisch-geistigen Entwicklung das "schöpferische
Nichts", das er als das "schöpferische Unbewusste" sowohl als
ein Zentralproblem der Tiefenpsychologie als auch der Mystik und des mystischen
Menschen betrachtet. Neumann hat die Konstellation der unvollständigen
Abtrennung des Ich vom Nicht-Ich als den Archetyp der paradiesischen Ganzheit
als Vollkommenheitszustand, d.h. als das Paradies phylogenetisch an den
Anfang der Menschheitsgeschichte gesetzt. Ontogenetisch kann man damit das
Paradies der Kindheit vergleichen. Das sich entwickelnde Ich ist stets auf das
Schöpferische angewiesen; "das heißt auf die Spontaneität des Nicht-Ich,
das sich im schöpferischen Prozess offenbart und das seinem Wesen nach numinos
ist. Die Begegnung mit dem Numinosen bildet die 'andere Seite' der
Bewusstseinsentwicklung und sie ist ihrem Wesen nach mystisch" (S. 147).
Solch eine mystische Begegnung führt zu einer Erschütterung der
Gesamtpersönlichkeit: "Bei jeder Konfrontierung des Ich mit einem
Numinosen kommt es zu einer Situation, in der das Ich 'außer sich' gerät, aus
seinem Bewusstseinsgehäuse herausfällt, herausgerissen wird oder heraustritt,
um nur in veränderter Gestalt wieder 'zu sich' kommen zu können" (S. 148).
Hier tritt nach Neumann der "schöpferische Nichtspunkt" in
Erscheinung, "der 'nichts' ist als ein Jenseits des Bewusstseins".
Aus dieser Sicht ist auch die Zen-Erfahrung wie auch jede andere mystische
Begegnung als transpersonales numinoses Ereignis qualifiziert, um in einer
häufig dramatischen Grenzerfahrung eine Wandlung des Menschen hervorzurufen, da
das Ich aus seinem alten, gleichsam erstarrten Bewusstseinsgehäuse und seiner
Bewusstseinsverschlossenheit gelöst wird, "denn das erfahrende Ich bewegt
sich jedes Mal auf etwas hin, das außerhalb seines Bewusstseins und seiner
rational aussagbaren Welt liegt" (S. 151). So wird bei E.Neumann auch das
von Suzuki als "unräumlicher" Raum des Schöpferischen beschriebene
"Nichts" als der "schöpferische Nichts-Punkt im Menschen",
der "Nichts" ist als ein Jenseits des Bewusstseins, qualifiziert und
konstatiert: "Sein schöpferisches Produkt heißt dann Offenbarung" (S.
148). "Die Epiphanie des bis dahin Verborgenen ist nicht nur auf das
Vorhandensein eines Ich angewiesen, dem es erscheinen kann, sondern mehr noch
auf den Akt der Zuwendung und Hinwendung dieses Ich, auf seine Fähigkeit, sich
ergreifen zu lassen und auf seine Bereitschaft, das zu sehen, was erscheinen
will. […] Umgekehrt ist das menschliche Bewusstsein angewiesen auf die
Spontaneität – [christlich gesprochen: die Gnade] – des Numinosen. Beide
Angewiesenheiten werden innerhalb dessen ausgetragen, was wir menschliche Persönlichkeit
nennen. In diesem Sinne hat das transpersonale Numinose [das man gerade als das
Transpersonale auch als das 'Nichts', d.h. als die Fülle des schöpferischen
Unbewussten qualifizieren kann] seinen Ort im Menschen und nur in ihm, als dem
Ort der mystischen Begegnung von Ich und Nicht-Ich. Die Realität dieser
Begegnung gehört zu den Grundgegebenheiten des menschlichen Daseins, und wenn
wir den Prozess dieser Begegnung und Verwandlung von Ich und Nicht-Ich als
mystisch bezeichnet haben, dann ist die mystische Kategorie eine Grundkategorie
menschlicher Erfahrungsweisen"50).
Da auch die kabbalistische Lehre vom Zimzum, der
Kontraktion Gottes, die Schöpfung aus dem "Nichts" voraussetzt, so
sieht Neumann folgerichtig: "Diese Erfahrung vom schöpferischen Nichts im
Menschen ist die Ursprungserfahrung, welche zur Projektion des Bildes
einer Schöpfung aus dem Nichts geführt hat, die ja nicht nur die
jüdisch-christliche Theologie lehrt, sondern die in jeder mystischen und
schöpferischen Erfahrung lebendig erneuert wird. Der Punkt des schöpferischen
Nichts steht im Zentrum der mystischen Anthropologie, die mit dem Wesen des
schöpferischen Prozesses beschäftigt ist, er steht gleichzeitig aber im Zentrum
aller mystischen Erfahrung, die um das Verborgensein der Gottheit
kreist"51).
Exkurs I: E.Neumann, Der
schöpferische Mensch
Neumann sieht die Wandlungen der Persönlichkeit am
deutlichsten dort, wo ein "ichzentriertes und anscheinend abgekapseltes
Bewusstsein gewaltsam ergriffen wird" und plötzliche "Einbrüche"
des Unbewussten ins Bewusstsein dieses aus seiner bisherigen Verfassung reißen.
Eine nur intellektuelle Neuorientierung in geistigen Fragen bleibt häufig genug
wirkungslos, weil die bis dahin unterdrückten oder verdrängten emotionalen
Tiefenschichten der Persönlichkeit nicht ins Bewusstsein gehoben werden.
Geschieht dies aber, wird von dem, der diesem Prozess unterworfen ist, solch
ein Wandlungsphänomen in seiner Plötzlichkeit und Fremdartigkeit als
"Bekehrung" oder "Erleuchtung" empfunden. "Der
Einbruch in das Bewusstsein ist hier fast immer nur der Durchbruch einer
Entwicklung, die sich lange schon im Unbewussten der Persönlichkeit vorbereitet
und ausgereift hat, so dass der Einbruch nur den bursting point eines
Wandlungsprozesses darstellt, der schon lange vorhanden, aber bis zu diesem
Zeitpunkt für das Ich nicht wahrnehmbar war"52).
Diese Persönlichkeitsveränderung, die sich in den
unterschiedlichen Lebensphasen (Kindheit, Pubertät, Lebensmitte usw.)
vollziehen kann, ist in der Regel stets produktiv. Dennoch werden wir uns
fragen, wie es dazu kommt! Neumann sieht den modernen Menschen durch "die
Einseitigkeit unserer Bewusstseinskultur so weitgehend von der Naturseite des
Unbewussten abgespalten [...], dass es in hohem Maße zu einer Erstarrung seiner
Persönlichkeit und zu einem Verlust seiner psychischen Wandlungsmöglichkeit
gekommen ist" (S. 19). So verliert der Mensch häufig seine
"Ganzheit", "das Ich wird ein 'Nur-Ich', etwas Egohaftes, wie es
in der Terminologie von 'egoistisch' und 'egozentrisch' auftritt. Das Ich
erscheint als verschlossen sowohl gegenüber dem Du des [ewigen, im Unbewussten
wurzelnden] Selbst, der eigenen Ganzheit, als auch gegenüber dem Du des
Draußen, der Welt und des Menschlichen" (S. 19).
Was ist das Ergebnis einer solchen Entwicklung?
"Eine solche Verdrängung und Absperrung des Bewusstseins schafft aber eine
Unterwelt unbewusster Kräfte mit einer gefährlichen, emotionalen Ladung, die
nun dahin tendieren, im Durchbruch die Welt des herrschenden Bewusstseins zu
überwältigen und zu vernichten" (S. 20). Was verspricht Heilung? Neumann
sieht die Beseitigung des Starren, Festen und Unveränderlichen vor allem dort,
wo eine Wandlung die schöpferischen Kräfte freisetzt. Man muss sich dem
Phänomen stellen, dass alles Kreatürliche dem sich ständig verändernden Leben
ausgesetzt ist, "das als Tod und Untergang ebenso wie als Wandlung und
Übergang seine Existenz vollständig umfasst" (S. 21). So wird der Mensch,
der dieser Gefahr entkommen will, stets immer wieder die Kräfte des
Verschlossenseins durchbrechen müssen, um den "Anruf des schöpferisch
Lebendigen" zu vernehmen. Das schöpferische Prinzip, das die Formen des
Starren in sich bekämpft, muss als ein Leben, das die Wandlung will, sowohl das
Leben als auch den Tod [als zum Leben hinzugehörige dialektische
Bewegung] in sich bejahen. Was E.Neumann hier betont, dass der Tod als
ein zum Leben gehöriger Prozess zu bejahen und nicht zu fliehen sei, hat aus
philosophischer Sicht bei G.W.F.Hegel die Formulierung gefunden: "Der Tod,
wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das Furchtbarste, und das
Tote festzuhalten das, was die größte Kraft erfordert […]. Aber nicht das
Leben, das sich vor dem Tode scheut und vor der Verwüstung rein bewahrt,
sondern das ihn erträgt [d.h. integriert] und in ihm sich erhält, ist das Leben
des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten
Zerrissenheit sich selbst findet"53).
E.Neumanns weist darauf hin, dass die von ihm in den
Blick genommene schöpferische Wandlung einen Ganzheitsprozess darstellt, in dem
das Schöpferische aus seiner Quelle, dem "Selbst", dem
Ganzheitszentrum hervorbricht, um die Beziehung zwischen Bewusstem und
Unbewusstem wieder herzustellen, wobei sowohl die intrapsychische
Ich-Selbst-Beziehung als auch die Ich-Du-Beziehung eine neue Klarheit erfährt.
"Denn bei der schöpferischen Ganzheitswandlung weist immer eine veränderte
Beziehung zum Unbewussten und zum Selbst auch auf eine veränderte Bezogenheit
zum Du und zur Welt. […] Deutlicher ist für den schöpferischen Prozess das aus
Innen und Außen, Psychisch-Subjektivem und Objektivem synthetisierte Phänomen
des 'Werkes'. Dieses ist, auf welchem Gebiet menschlicher Kultur auch immer,
als 'Kind' seines Schöpfers stets sowohl Geburt seiner individuellen,
seelischen Wandlung und Ganzheit wie ein Neu-Objektives, das für die Menschheit
etwas aufschließt, das heißt eine Form schöpferischer Offenbarung
darstellt" (S. 24). An dieser Stelle würde N.Berdjajew im "Werk"
schon eine unzulässige Objektivierung sehen, obwohl er selbst stets getrieben
war, seine schöpferischen Ideen in zahlreichen Werken zu
"objektivieren", ohne hier den Selbstwiderspruch deutlich zu bemerken
oder zu artikulieren. Suchen wir – auch im Sinne des russischen Denkers – nach
einer sachgerechten Verklammerung von "Offenbarung" und
"Kreativität", so bietet E.Neumann eine sinnvolle Lösung an, indem er
darauf verweist, dass die biblische Ebenbildlichkeit von Gott und Mensch darin
erfahrbar wird, "dass der Mensch zwar Kreatur, aber außerdem selber ein
Schöpferisches ist, das sich erfüllen muss, wenn sich seine Ebenbildlichkeit
erfüllen soll. Dieses Schöpferische hat überall, wo es auftritt,
Offenbarungscharakter; aber die Offenbarung steht in engstem Zusammenhang mit
der menschlichen Psyche, der und in der sie sich offenbart. Das heißt: Die
schöpferische Offenbarung ist nicht nur vom Menschen ablösbar, sondern mit ihm
auf eine intime, einmalige und unverwechselbare Weise verbunden"54).
Exkurs II: N.Berdjajew,
Philosophie und Schöpfertum
Weil aber die Offenbarung als schöpferischer, geistiger
Prozess in allen ihren Gestalten, Formen und Aussagen keiner letzten Begründung
mehr bedarf, stellt Berdjajew seine philosophische Intuition ebenso auf die
gleiche Ebene der schöpferischen Offenbarungsqualität und kommt zur These:
"Vom Philosophen verlangt man eine Rechtfertigung seiner Intuition durch
wissenschaftliche, diskursive, zwangsläufige Kriterien, die außerhalb der
Philosophie und außerhalb der schöpferischen Intuition liegen, darum nur, weil
sie ihn in seinem schauenden Erkennen einsam und fremd dastehen lassen. Der
Philosoph ist aber nicht verpflichtet, sich selber und sein Werk bis zum
niedersten Niveau der Gemeinsamkeit auf dem Boden der Notwendigkeit
herabzusetzen […]. Wie jeder schöpferische Akt ist die Philosophie auf das
Transzendente gerichtet, auf den Übergang über die Grenzen der Weltgegebenheit
hinaus"55). Wenig später kann Berdjajew im gleichen Werk sagen: "Die
Intuition ist das Letzte in der Philosophie, die Logik das Vorletzte […]. Das
bedeutet aber, dass die Philosophie keiner wissenschaftlichen, logischen
Begründung und Rechtfertigung bedarf und sie auch nicht zulässt" (S. 31).
Dies alles setzt voraus: "Philosophie ist auch noch aus dem Grunde nicht
Wissenschaft, sondern Kunst, weil die Intuition des Philosophen Genialität voraussetzt,
die universales Auffassen der Dinge ist. Der Philosoph braucht kein Genius zu
sein, aber die philosophische Intuition enthält immer Genialität, ist immer ein
Teilhaben am Element des Genialen" (S. 33). Wenn wir uns noch für einen
Augenblick bei der Intuition aufhalten, um gleich zum Geniebegriff überzugehen,
so halten wir die N.Berdjajew bestätigenden Aussagen von K.Albert fest.
"Es gibt zumindest zwei Weisen der 'mystischen Intuition': eine
unentfaltete, vorbewusste, unreflektierte und eine entfaltete, bewusste,
reflektierte. Aus der ersten entspringt die Philosophie, in der zweiten
erreicht sie ihr endgültiges Ziel. Dieses Ziel ist die schweigende Anschauung
des Seins in seiner Einheit und Unendlichkeit, wobei sich der Schauende als mit
dem Geschauten vereint erfährt"56).
Bei
dem nun in den Blick zu nehmenden Geniebegriff ist zu berücksichtigen, dass
schon seit Hegel die Bedeutung des Genies relativiert, "als die
Notwendigkeit einer Verbindung von Talent und Arbeit betont wird"
(Philosophielexikon, Stuttgart 1996, S. 185). Zum Thema der Genialität hat sich
Berdjajew auch ausführlich geäußert. Einige Bemerkungen zu diesem Thema seien
angefügt: "Der schöpferische Weg des Genies verlangt Opfer, nicht
geringere Opfer als die Opferbereitschaft des Weges zur Heiligkeit. Auf dem
Wege der schöpferischen Genialität muss man sich ebenso sehr von der 'Welt'
lossagen, die 'Welt' überwinden, wie auf dem Wege zur Heiligkeit. Aber der Weg
der schöpferischen Genialität forderte auch noch ein anderes Opfer – die ungefährdete,
sichere Lage muss zum Opfer gebracht werden, die sichergestellte Lösung. Wer
den schöpferischen Weg, den Weg der Genialität betreten will, muss auf den
stillen Hafen im Leben verzichten, muss darauf verzichten, sein Haus zu bauen,
ungefährdet seine Persönlichkeit zu ordnen. Zu diesem Opfer ist nur der
befähigt, der die schöpferische Ekstase kennt, der in ihr über die Grenzen der
'Welt' hinausgeht. Der Weg des Schöpfertums und der Genialität ist
gleichbedeutend mit einem Abstoßen von allen Ufern […]. Genialität ist eine
andre Ontologie der menschlichen Wesenheit, ihre heilige Unangepasstheit an
diese 'Welt'. Genialität ist 'die andere Welt' im Menschen, des Menschen
unirdische Natur"57).