Gebet und
inneres Leben in der orthodoxen Tradition, Bobrinskoy 3
[S. 222] Nachdruck auf die Tatsache, dass das wahre
Fasten sich nicht auf die Enthaltung von Speisen beschränkt, sondern ebensosehr
die Seele wie den Körper betrifft. Das Kniebeugen und das wiederholte
Sichniederwerfen sind gleichfalls Gebetshaltungen, die zur Buße anspornen und
die innere Reue anzeigen wollen. Diese Gesten sind in der Großen Fastenzeit
besonders häufig. Sie sind jedoch für die Sonntage und vor allem während der
Osterzeit gänzlich abgeschafft. Zu diesen Zeiten ist die aufrechte Haltung
(zumindest bei den Russen) die allgemein übliche und auch diejenige, die am
besten die Freude der Kinder Gottes ausdrückt, die mit Kühnheit und Vertrauen
ihren himmlischen Vater anrufen.
Endlich wird das Zeichen des Kreuzes im liturgischen
und auch im persönlichen Gebete häufig ausgeführt. Es dient dazu, das Gewicht
dieses oder jenes Momentes zu unterstreichen, begleitet die trinitarische
Doxologie, bezeichnet Anfang und Ende der Gebete und der biblischen Lesungen.
Der Gläubige drückt endlich durch diese Geste die Glut seines Gebetes aus und
gibt ihm damit einen Ausdruck, von dem er selbst ganz durchdrungen ist.
II. Formen des Gebetes
Es
existieren in der orthodoxen Kirche genau umschriebene Gebetsformeln und
Devotionsakte, die der Gläubige regelmäßig gebraucht und denen er sich
unterzieht.
1. Das tägliche Gebet
Diese
Gebetsformeln, diese kleinen nebenliturgischen Verrichtungen, wollen dennoch
nicht mehr als ein allgemeiner Rahmen sein, der nicht etwa den spontanen
Ausdruck der persönlichen Inspiration begrenzen will. Selbst bei der Rezitation
der Gebete ist es wichtig, sich innerlich zu konzentrieren, wenn nicht diese
Wiedergabe des Gebetes ihren geistlichen Wert verlieren soll.
So beginnt
z. B. das Morgengebet in dem für den Gebrauch der Gläubigen bestimmten
Gebetsbüchlein folgendermaßen: "Nach deinem Erwachen, bevor du den
Tageslauf beginnst, stelle dich mit Ehrfurcht vor Gott, der alles sieht, mache
das Zeichen des Kreuzes und sage: "Im Namen des Vaters, des Sohnes und des
Heiligen Geistes, Amen." Nachdem du die Heilige Trinität angerufen hast,
bewahre einen Augenblick Stillschweigen, sodass Deine Sinne und Gedanken sich
beruhigen und von eitlen Gedanken frei werden, dann sprich die folgenden Gebete
ohne Eile und von ganzem Herzen . . ." Die Ordnung des Morgengebetes wie
übrigens auch die des Abendgebetes setzt sich durch einen Akt der Buße fort,
der in der dreimaligen Wiederholung des Jesusgebetes besteht, von dem weiter
unten die Rede sein wird: "Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, habe Erbarmen
mit mir Sünder." Dann folgt eine Anrufung des Heiligen Geistes, die jedes
öffentliche wie private Gebet einleitet: Himmlischer König, Tröster, Geist der
Wahrheit, der Du überall bist und alles erfüllst, Urheber aller Wohltaten und
Spender des Lebens, komm’ und bleibe in uns, reinige uns von allem Schmutz und
rette unsere Seelen in Deiner Güte." Es schließen sich [S. 223] das
dreimal Heilig, ein kurzes Bußgebet zur heiligen Trinität und das Vater Unser an,
dann folgen die Morgen- oder Abendgebete mit dem Miserere [Psalm 50 LXX] und
das Glaubensbekenntnis, die Gebete zur Gottesmutter, zum Schutzengel,
persönliche Fürbitte für Verstorbenen und Lebenden, eine Hingabe seines Lebens
an das Heilige Kreuz (§) und der Abschluss. Es ist nicht möglich, hier die
Gebete ausführlich wiederzugeben, aber ich möchte doch einige Punkte noch
deutlich herausstellen.
a. Der grundlegende Wert der
inneren Konzentration und der Freiheit gegenüber den irdischen Werten
Das Gebet ist
immer eine Aussprache mit dem lebendigen Gott. Es ist notwendigerweise an den
Gebrauch feststehender Formeln gebunden. Das Gebet ist seinem Wesen nach eine
Kontemplation, eine persönliche Begegnung mit Gott. Die Formeln sind eine
Hilfe, aber weder das einzige noch das beste Mittel. Die Gebetbücher sind für
die Anfänger nützlich, haben aber keinen verbindlichen Charakter an sich. Ihr
Ziel ist, dem Gläubigen dazu zu verhelfen, sich selbst in die Gegenwart Gottes
zu versetzen, zu ihm zu sprechen und ihn innerlich anzubeten in einer stets
wachsenden Freiheit.
So wie der
hl. Seraphim von Sarow (1755-1833) sagt: "Wir müssen so lange beten, bis
der Heilige Geist zu uns herabsteigt . . . sobald er zu uns kommt, muss man
aufhören zu beten." Es ist wichtig, mit Gott zu sprechen, aber es ist
nicht weniger wichtig, zu schweigen und ihn in der Tiefe unseres Schweigens
sprechen zu lassen. So ist also das Gebet nicht mit der Bitte zu verwechseln.
Diese macht nur einen Teil des Gebetslebens aus, das im ganzen ein lebendiger
und unendlich variierter Dialog ist. Der Mensch bringt darin seine Gefühle zum
Ausdruck, seine Freude, seine Erwartung, sein Bitten und seinen Dank. Er
vernimmt auch einfach, wie der Heilige Geist ihn selbst mit unaussprechlichem
Seufzen vertritt (Röm. 8, 26).
b. Das Gebet als Bekenntnis
Das Gebet
beginnt mit einer Anrufung der Trinität, sodann mit einer Anrufung des Heiligen
Geistes. Dieses ist der tiefgegründete Charakter der orthodoxen
Gottesverehrung, der öffentlichen sowohl als der privaten. Sie will den
Gläubigen in eine einzigartige und notwendige Beziehung zu den Personen der
göttlichen Trinität stellen. Das Gebet hat also den Wert eines dogmatischen
Glaubensbekenntnisses. Aus diesem Grunde schließt auch der Gebetsvollzug immer
das Glaubensbekenntnis von Nicäa und Konstantinopel mit ein.
c. Gebet und Buße
Es muss
der Bußcharakter der orthodoxen Gebete hervorgehoben werden. Dieser steht nicht
im Widerspruch zu dem Grundgefühl der Freude, das den orthodoxen Kultus
beherrscht, im besonderen der Oster- oder der Sonntagsliturgie. Wahre Freude
und das Jauchzen, die einer der charakteristischen Züge der orthodoxen
Spiritualität sind, haben ihren Grund in dem Sieg Christi und in ihm auch des
Christen über die Mächte des Bösen und über den Tod. Die Buße ist also eines
der Elemente, die diesen Sieg bedingen.
[S. 224]
Diese Regel für das innere Leben beschränkt sich nicht auf die Morgen- und
Abendgebete. Es ist üblich, den Priester bei besonderen Gelegenheiten in das
Haus zu laden, sei es zu einer Familienfeier, bei einer Krankheit, vor einer
Reise, vor Prüfungen, besonders bei einem Trauerfall. Der Priester feiert vor
der Familie das Amt der Fürbitte und des Lobes. Die nach der gegebenen
Veranlassung ausgewählten Gebete wenden sich an unseren Herrn Jesus Christus,
an die Gottesmutter oder an diesen oder jenen besonders verehrten Heiligen.
Wenn ein Priester nicht zu erreichen ist, so kann sich auch die Familie selbst
zum Gebet zusammenfinden. Dort, wo es an Priestern mangelt, z. B. in den
Missionsländern, kann ein Laienkatechet oder ein Helfer eine Gruppe von
Gläubigen zu einem Gebetsabend, zu biblischer Lektüre oder zur Meditation
versammeln.
Das Gebetbuch der Gläubigen enthält in gleicher Weise
Gebete und Gedichte, die vor oder nach der Kommunion zu beten empfohlen werden.
Dieses "Amt der Vorbereitung" [Kommunionvorbereitung durch Fasten,
Gebet und Beichte: govenie, ist sehr verbreitet und wird von den Beichtvätern
sehr ernstlich angeraten, denn es dient dazu, den Gläubigen in einen Zustand
der Herzensreue zu versetzen, der Anbetung und der Sammlung der Gedanken, wie
es für die würdige Aufnahme der Heiligen Sakramente notwendig ist.
2. Das Jesusgebet oder das Herzensgebet
Wenn die
Gebetserziehung den Sinn für die Innerlichkeit und für den anbetenden und im Stillen
geschehenden Dialog entwickelt, so dass die Formeln und selbst die Worte
überflüssig werden, so hat sich an dem von Jesus uns gelehrten Gebet die
orthodoxe Spiritualität entwickelt und in der Tradition der Kirche besonders
ausgedrückt. Wenn auch diese Tradition des Jesusgebetes im Westen erst bekannt
wird, so bildet sie seit je das eigentliche Zentrum der Frömmigkeit des Ostens,
und diejenigen, die sich bemühen, den Geist der Orthodoxie zu erfassen, können
keineswegs die das Jesusgebet betreffende Tradition übergehen.
Diese
Tradition ist an die mystische Schule des Hesychasmus (wörtl. Ruhe, Betrachtung
und infolgedessen Zurückgezogenheit) gebunden, die auf die ersten Wüstenväter
zurückgeht und in der orthodoxen Lehre von Gnade und Heiligung eine entscheidende
Rolle spielt. Nachdem sie im byzantinischen Mönchtum geblüht hatte, kam die
Praxis des Jesusgebetes im 18. Jahrhundert nach Russland und führte dort zu
einer reichen Ernte der Heiligkeit und der Früchte göttlicher Gnade. Außer den
bekannten Namen der Starzen oder der Meister des geistlichen Lebens, deren
bekanntester der hl. Seraphim von Sarow ist, haben die großen Starzen von
Optina und endlich der unserer Zeit noch näherstehende Johannes von Kronstadt
(gest. 1908) sowie eine Menge von unbekannten Gläubigen, Mönchen, Priestern,
Pilgern und Laien, das Jesusgebet als eine kostbare Perle gepflegt.
Eines der
bekanntesten und zugleich der eigenartigsten Zeugnisse über die Verbreitung des
Jesusgebetes im russischen Volke ist das der "Wahrhaftigen Gespräche eines
Pilgers mit seinem geistlichen Vater"6), ein anonymes volkstümliches Werk
des 19. Jahrhunderts. Dieses Buch berichtet über die Praxis des Jesusgebetes,
wie sie von einem unbekannten Pilger ausgeübt wurde. Das einzige Gut dieses
Pilgers war eine Bibel und ein Exemplar Philokalie, ein [S. 225] Buch, das
Auszüge aus dem Schrifttum der Väter über das innere Leben und insbesondere für
das Gebet enthielt.
Das Ziel des Jesusgebetes ist es, das Gebot des
Evangeliums unaufhörlich zu beten, zu verwirklichen. Dieses Gebet besteht aus
einer Verbindung der Anrufung des Namens Jesu und des Gebetes des Zöllners
("O Herr, habe Erbarmen mit mir Sünder"). Durch diese unaufhörliche
Wiederholung des Namens Jesu bemüht sich der Gläubige, in eine mehr und mehr
umfassende Gemeinschaft mit Gott einzutreten, indem er den Rhythmus seines
Atems und seines Pulsschlages dem Jesusgebet anpasst: "Möge das Gedenken
an Jesus mit deinem Atem eins werden", lehrt der hl. Johannes Klimakos in
der "Paradiesleiter".
Dieses
beständige Gebet steht in vollem Gegensatz zu der Ungeformtheit der Worte:
"Keine Nachforschung über die Worte eures Gebetes", sagt Klimakos
noch einmal. "Wie viele Male bringt doch das einfache und monotone Lallen
den Vater zum Nachdenken! Lasst euch nicht in lange Reden ein, um nicht eueren
Geist auf der Suche nach Worten zu zerstreuen. Ein einziges Wort des Zöllners
hat die Barmherzigkeit Gottes hervorgerufen; ein einziges Glauben, hat den
Schächer gerettet." Die Vielfalt der Worte in einem Gebet erfüllt oft den
Geist mit Vorstellungen und zerstreut ihn auf diese Weise, während häufig ein
einziges Wort (Monologie) die Wirkung hat, dass es ihn sammelt.
Der Inhalt
des Jesusgebetes ist also der göttliche Name Jesu Christi. Es besteht in der
Bibel ein enges Band zwischen dem Namen und der Person. Den Namen Gottes
anrufen, heißt schon, ihn in sich tragen. Der Name Jesu ist für Paulus
unaussprechbar und ist über jeden Namen erhaben (Phil. 2, 9-11). "Der Name
des Sohnes Gottes", sagt Hermas, "erhält die ganze Welt".7)
Diese Gegenwart Christi, die durch die Anrufung seines heiligen Namens
geschieht, hat dennoch nichts Mechanisches. Sie ist eine Antwort Christi auf
den Schrei des Herzens, das Gott sucht und nach seiner Gegenwart. Das
Jesusgebet unterscheidet sich von den gesprochenen Gebeten durch seine
Einfachheit und innere Einheit. Das Herz des Betenden übersteigt das Stadium
der Vielheit, der Bilder, der Zerstreuung, der Gedanken und Gefühle und findet
seine Einheit in einer totalen Konzentration seines Geistes auf Gott. Dieses
Gebet ist aber trotzdem keineswegs eine rein intellektuelle Übung, denn es
verlangt die Wiederherstellung der geistlichen Einheit und die Rückkehr des
Intellektes in das Herz. Der Intellekt verliert also seine Autonomie und
gesundet bei der Betrachtung der göttlichen Liebe, die das menschliche Herz
erfüllt, indem er das Organ für die Erkenntnis Gottes wird. Deshalb wird das
Jesusgebet das mentale Gebet, das Gebet des Herzens genannt.
Wenn der
Gebrauch des Jesusgebetes in der Tradition der orthodoxen Kirche als die
erhabenste "Kunst" betrachtet wird und wenn die, die diese Kunst
beherrscht haben, auf den Gipfel der Vollkommenheit und Heiligkeit gelangt
sind, so kann doch nichtsdestoweniger jeder Christ aus dieser Übung einen
ungeheuren Gewinn haben, wenn es ihm gelingt, durch sie die Geheimnisse des
inneren Lebens zu entdecken, und wenn er die für das liturgische Gebet
notwendige geistliche Atmosphäre schaffen kann, indem er die-