Freiheit und Schaffen 2
Nikolai Berdjajew präzisiert,
dass in dem Denken von Böhme das Unbestimmte einmal Nichts und Freiheit,
potentielle Freiheit ist. "Die Freiheit – wird er sagen – gleicht dem
Nichts, aber es ist von ihr, dass das Etwas hervorgeht". Daraus folgt:
„Die Freiheit des Ungrunds ist weder Licht, noch Finsternis, noch Gut, noch
Böse. Die Freiheit liegt in der Finsternis und dürstet nach Licht. Und die
Freiheit ist die Ursache des Lichtes.“ (I. Studie über Böhme, S. 61f).
Die zahlreichen Zitate – und
die Interpretation, die sie begleitet – ermächtigen uns so, das Problem des
Bösen und der Freiheit zusammenzufassen, bevor wir die Wirkungen des Bruches
feststellen, der sich zwischen Gott und Mensch ergeben wird. Die einzige
Erklärung des Bösen erhebt sich aus der ungeschaffenen Freiheit. Mit anderen
Worten: Gott ist nicht der Schöpfer dieser Freiheit. Wenn Gott deren Schöpfer
wäre, würde diese Freiheit gut sein, da Gott Freiheit und Liebe ist. Die
Tragödie der Geschichte ist mit diesem irrationalen Prinzip verbunden, von wo
der Kampf zwischen dem Licht und der Dunkelheit ausgeht. Deshalb ist Nikolai
Berdjajew der Ansicht, dass "die Freiheit der metaphysische Grund der
Geschichte ist" (Der Sinn der Geschichte, S. 50), indem die
Geschichte die Offenbarung ist "vom spirituellen Wesen der Welt und des
Menschen". Theandrisch ist sie die reziproke Handlung Gottes und des
Menschen, eine Begegnung des einen mit dem anderen (ebendort, S. 38).
Am Punkt des Abbruchs der
Weltgeschichte existiert eine Trennung zwischen Gott und dem Menschen, sie
vollzieht sich vor den Ursprüngen des kosmischen Prozesses, und die Sünde Adams
und Evas ist das Symbol dieser Trennung. Nikolai Berdjajew entfernt sich nicht
von dieser Darstellung, indem er schreibt: "Der Fall des Menschen hat sich
außerhalb dieser Welt der Phänomene und außerhalb dieser Zeit ereignet. Diese
Welt und diese Zeit sind im Gegenteil erzeugt vom Verfall. Deshalb kann der
Weg, dem der Mensch folgt und der sein Schicksal entscheidet, sich nicht
ausschließlich in dieser Welt, in diesem weltlichen 'Äon', befinden" (Eschatologische
Metaphysik, S. 270).
Der historische Prozess
findet deshalb nicht statt "wie ein rein äußeres Phänomen", er hat
seinen Beginn und sein Ende in "den Tiefen des spirituellen und göttlichen
Lebens" (10).
Die Ursünde zeigt, was ein
Bruch ist. Man würde Unrecht haben, Berdjajew zu tadeln, nicht hinreichend
erklärt zu haben, worin dieses besteht. Man muss ihm nicht wie einen Ungehorsam
ins Auge fassen, denn Gott ist nicht ein Despot, der dem Menschen seinen Willen
aufzwingt. Allein eine unterwürfige Vorstellung von der Ursünde könnte es wie
eine Zurückweisung des göttlichen Willens betrachten, das heißt als einen
Ungehorsam. Die Ursünde gehört zur inneren Dialektik der menschlichen Freiheit,
fähig das Böse zu begehen. Dies ist so, weil für Nikolai Berdjajew der Teufel
nicht eingreift, er setzt sich nicht in einen Gegensatz zu Gott, er ist
"eine Realität der inneren Erfahrung, des Weges, der vom Menschen gegangen
wird" (Existentielle Dialektik, S. 113). Der Satan symbolisiert
"eine Realität einer spirituellen Ordnung [...], er ist nur die
Manifestation der irrationalen Freiheit auf dem Gipfel des Geistes" (Geist
und Freiheit, S. 180).
Die unerschaffene Freiheit
bietet sich dar wie eine unendliche Energie, die nicht aufhört, sich zu
entwickeln und sich neu zu schaffen. So offenbart die Schöpfung der Welt die
Schöpfung, die sich in Gott und in der unerschaffenen Freiheit erzeugt. Das
irdische Drama stellt sich heraus als das Symbol des himmlischen Dramas, das
irdische symbolisierend, für Berdjajew wie übrigens für Gregor von Nyssa, die
Ewigkeit. Die Beziehung zwischen diesen beiden Dramen, dem irdischen und dem
himmlischen, nimmt in Gott eine Bewegung an.
"Ein Prozess
schöpferischer Dynamik erfüllt sich in Gott von aller Ewigkeit her. Dies will
nicht sagen, dass Gott von der Welt und vom Prozess abhängt, der sich hier
entfaltet, aber dass dieser Prozess sich innerlich an den anschließt, der sich
in Gott vollendet, nicht in der Zeit, sondern in der Ewigkeit […]. Und dies ist
es, das eine Bedeutung von Ewigkeit dem gewährt, das in der Welt geschieht und
dem, was dem Menschen widerfährt" (Existentielle Dialektik, S. 66).
Durch diesen Prozess, der sich in Gott erfüllt, begreift der Mensch den Sinn
seiner wahrhaften Berufung; er versteht unter einem neuen Aspekt, dass es ihm
allein zukommt, seine schöpferische Natur zu entdecken. Im Hinblick darauf
schweigt die Heilige Schrift, "das Rätsel des Geheimnisses des
Menschen" sollte durch das Bewusstsein des Menschen erreicht werden:
"Wenn die Wege des Schaffens durch die Heilige Schrift bezeichnet und
gerechtfertigt wären, dann wäre das Schaffen Gehorsam gewesen, es wäre nicht
Schaffen gewesen [...]. Weil das Geheimnis des Schaffens und seine Wege in der Heiligen
Schrift verborgen wurden, wohnt dort die esoterische Weisheit des Christentums
[...]. Gott erwartet vom Menschen die anthropologische Enthüllung des
Schaffens, indem er ihm die Wege verborgen hat, die dort genau zum Namen der
menschlichen Freiheit und zur Ähnlichkeit des Menschen mit Gott führen" (Der
Sinn des Schaffens, S. 129f).
Deshalb ist der Mensch frei,
denn er kann sich soweit als Schöpfer begreifen, soweit wie er Geist ist, denn
er ist zugleich frei und Schöpfer. Nach Nikolai Berdjajew geschieht es nicht
durch den Vater oder durch den Sohn, dass sich ein solches Mysterium offenbart,
sondern durch den Geist. Die antike Welt stand in der Erwartung der Erlösung.
Der tote und wieder auferweckte Christus eröffnet eine andere Ära, aber die
schöpferischen Kräfte des Menschen sind noch nicht entfaltet. Mit dem Geist
wird ein neues Sein geboren, deshalb nennt Nikolai Berdjajew diese Offenbarung
"anthropologisch".
Das Schaffen des Menschen
folgt dem Werk des Schaffens Gottes. Dieses Schaffen trägt sich nicht nur in
den Bereich der Wissenschaften und Künste ein, es entwickelt sich jenseits,
denn Wissenschaften und Künste können sich in die Ordnung des Gehorsams
einfügen. Der schöpferische Schwung des Menschen kann keinem Zwang unterliegen:
"Ebenso wie die blutigen Opfer des Heidentums die authentische Versöhnung,
erfüllt für die Welt, durch das Opfer von Golgatha ankündigten, aber nicht an
diese Versöhnung heranreichten; so die schöpferischen Anstrengungen des
Menschen, Werte der Kultur schaffend, konnten bis zur Gegenwart nur die
religiöse authentische Epoche des Schaffens ankündigen, das sich durch ein
neues Sein (Wesen) verwirklichen muss (ebendort, S. 136f).
So folgen drei Offenbarungen:
die des Vaters im Alten Testament, die des Sohnes im Neuen Testament. Auf diese
beiden ersten Offenbarungen folgt die Offenbarung des schöpferischen Menschen.
Diese dritte Offenbarung ist die Folge der "kosmo-anthropologischen
Offenbarung", die wesentlich religiös ist und auf die Bitte des
menschlichen Bewusstseins antwortet.
Man könnte übrigens an das
"Ewige Evangelium" des Joachim von Fiore und auch an die Kommentare
von Fr. [von] Baader erinnern, "die Drei Testamente" betreffend, die
den drei historischen Epochen entsprechen und die Mereschkowskij in das Licht
in Das Mysterium der Drei gesetzt hat. Das Erste Testament betrifft die
Religion Gottes in der Welt, das Zweite Testament des Sohnes ist die Religion
Gottes im Menschen, die des Gott-Menschen; das Dritte ist die Religion Gottes
in der Menschheit, die der Gott-Menschheit. Der Vater inkarniert sich in dem
Kosmos, der Sohn in dem Logos, der Geist in der Einheit des Logos mit dem
Kosmos, in der Theanthropie.
Nach Berdjajew besitzt die
dritte Offenbarung keineswegs ihre heilige Schrift: "Es wird nicht eine
Stimme von oben geben; sie wird sich im Menschen und in der Menschheit
vollenden, sie wird die anthropologische Offenbarung sein, die Offenbarung der
Christologie des Menschen (ebendort, S. 142) […]. In der ersten Phase
ist Gott für den Menschen transzendent; in der zweiten wird er ihm immanent; in
der dritten bietet der Mensch Gott seine Antwort an.
Nikolai Berdjajew mindert in
keiner Weise die Tatsache der Erlösung herab; jedoch bietet sie nichts als
einen einzigen Aspekt Christi dar: denjenigen des leidenden Gottessohnes. Er
ist darin ein anderer, derjenige des künftigen Christus, in der Glorie
erscheinend. Das Mysterium der Erlösung und das Mysterium der Schöpfung
korrespondieren auf unterschiedlichen Stufen des gleichen religiösen Dramas.
Christus ist auf dem Weg und ebenso auch der Mensch. Dieser Weg ist einer
Entdeckung vergleichbar, dieser verpflichtet die Freiheit des Menschen, seine
Würde und seine Verantwortlichkeit.
Wenn es der Mensch
zurückweist, Schöpfer zu sein, wäre er hier einem zweiten Fall preisgegeben.
Weil er von Gott diese dritte Offenbarung erwartet, die sich in der Ordnung der
Schöpfung manifestiert, wäre dies nämlich eine Weigerung, die Realität seines
Dialoges mit Gott und seine Rolle im Kosmos anzuerkennen. Der neue Mensch muss
ja seiner Berufung nachkommen und seine schöpferische Verantwortlichkeit sicher
stellen. "Der Fall des ersten Adam ist ein kosmisches Moment,
unentbehrlich für die Offenbarung des neuen Adam. Er ist der Weg, zu der Fülle
durch eine Serie von Auflösungen gebahnt [...]. Der Fall Adams war noch nicht
die Lösung des Schicksals der Welt. Dies war nur die Prüfung seiner Jugend. Der
Erste Adam war noch nicht in das Geheimnis der göttlichen Trinität eingeweiht,
und deshalb kannte er noch nicht die schöpferische Freiheit und es war nur die erste
Stufe des Schöpfertums (ebendort, S. 196f).
Angekommen auf der Stufe des
Schaffens hat der Mensch weder die Ethik des Gesetzes noch die Ethik der
Erlösung zu leugnen, und dies umso weniger, als die Ethik des Schaffens sich
wie die Erfüllung des Gesetzes und der Erlösung bestätigt. Diese bereiten sie
vor. Die dritte Offenbarung ist folglich die Krönung der beiden vorhergehenden
Offenbarungen. Das Gesetz und die Erlösung verursachen die neue Ära […].
Lange hat die Welt das
Bewusstsein dieser Realität nicht erfasst, der Akzent war auf die Schwäche des
Menschen und nicht auf die Würde seiner schöpferischen Kraft gelegt worden.
Heute enthüllt sich die wahrhafte Natur des Menschen. Die Natur des Menschen
ist schöpferisch, "weil er das Bild und Gleichnis des schöpferischen
Gottes ist" (ebendort, S. 146). "Es ist wichtig zu begreifen,
dass der schöpferische Akt für mich weder ein Anspruch noch ein Recht des
Menschen ist, sondern eine Forderung Gottes, gerichtet an den Menschen und eine
Verpflichtung für den letzteren. Gott erwartet den schöpferischen Akt des
Mensch als Antwort auf den schöpferischen Akt Gottes" (Autobiographie,
S. 261).
Ein solches Schaffen könnte
ohne die Realität der Welt nicht fertig werden, jedoch ist es nicht gänzlich
durch die Welt determiniert, es lässt ein Element zu, das nicht von außen
herstammen kann. "Der Mensch erwartet die Geburt Gottes in sich. Gott
erwartet die Geburt des Menschen in sich. In dieser Tiefe muss das Problem des
Schaffens aufgeworfen werden" (ebendort, S. 262).
Die mit der gefallenen Welt
verbundenen Probleme scheinen sich dem menschlichen Schaffen zu widersetzen.
Der Mensch riskiert, sich zu täuschen und für das Schaffen eine Verwirklichung
zu nehmen, die aus der Inspiration und aus dem Wissen geboren ist. Eine Melodie,
ein Gedicht, eine Skulptur, ein Bild, ein Buch nähern sich mehr oder weniger
der Vollkommenheit; unterdessen bleiben ihre Charaktere relativ. Nikolai
Berdjajew vergleicht eine entscheidende Stelle mit der Kunst, denn sie enthält
nach dem Maß ihrer Authentizität eine reinigende und befreiende Wirkung.
Tatsächlich besitzt jedes kulturelle Schaffen seine Wichtigkeit; es gehört
normal zum lebendigen Menschen in der Mitte der Zivilisation. Jedoch entspricht
es keineswegs der Schönheit und der Tiefe des wahrhaften schöpferischen Elans,
der, zum Ende der Welt hin orientiert, sich auf einer eschatologischen Ebene
bewegt. Die Verklärung, durch das menschliche Schaffen hervorgebracht, muss aus
einem neuen Himmel und einer neuen Erde hervorgehen.
Der Mensch lebt in einer
Welt, die den Sinn ihrer Orientierung und ihres wahrhaften Ursprungs verloren
hat. Er ist von Grenzen umgeben, er weiß nicht die Vollkommenheit zu erreichen,
nach welcher er unterdessen strebt. Das für ihn Wichtigste liegt in seiner
Liebe zur Ewigkeit, in seiner Sehnsucht nach dem Unsichtbaren, in seinem
Glauben an den Geist und auch an sein Leiden. Dieses bietet sich unter der
Gestalt eines unaussprechlichen Schmerzes dar, der Tatsache verbunden, in einer
fremden Welt zu leben, begrenzt und der Schönheit beraubt. Der aus dem Geist
geborene Mensch empfindet mit Schärfe das Gefängnis, in dem er sich befindet
und die Ketten, die ihn einengen.
Es scheint übrigens, dass
eine der größten Notlagen, die vom Menschen erlitten werden, der Ewigkeit
gewidmet, zu sehen, wie die Liebe und die schöpferische Freiheit wenig getrennt
sind. Auf der einen Seite erprobt der Mensch, verliebt in die Freiheit, eine
sterbliche Einsamkeit, auf der anderen Seite grämt er sich, alle diejenigen zu
sehen, die die Versklavung der Freiheit vorziehen.
Die herausfordernde
Begrenzung durch die Welt, worin der Mensch lebt, muss dennoch keineswegs
seinen Schritt verlangsamen und sein Suchen hemmen. Er weiß nämlich: "Die
Vollkommenheit eines schöpferischen Werkes hier auf Erden kann nur symbolisch
sein, Zeichen einer anderen Vollkommenheit, in einer anderen Welt und auf einer
anderen Ebene der Existenz. Das wahre Ziel besteht in dem Sieg der Realität
selbst über das Symbol" (Autobiographie, S. 270).
In seinem Versuch einer
Autobiographie stellt Nikolai Berdjajew eine Frage, und diese Frage ist von
tiefer Wichtigkeit: "Ist der Übergang des symbolischen Schaffens der
kulturellen Erzeugnisse zur wirklichen Schöpfung eines verklärten Lebens [...]
möglich und wie?" Selbstverständlich darf das Schaffen nicht wie eine
moralische Vervollkommnung verstanden werden. Das Problem ist ein anderes.
Berdjajew erinnert an die doppelte Haltung des christlichen Bewusstseins: die
eine, die die Askese wählt und sich von der Welt entfernt, die andere, die an
die Sakralisierung der sozialen Formen glaubt. Diese beiden Mentalitäten
beurteilt Berdjajew als Irrtümer. Es handelt sich nicht darum, die böse Welt zu
verurteilen und von seinem Gesichtspunkt eine verächtliche Feindschaft zu
manifestieren. Außerdem muss das Soziale nicht sakralisiert werden. Ein
einziger Weg erscheint richtig: er besteht im Übergang von der Realität der
Welt darin, an der Verklärung dieser Welt teilzunehmen. Die Erkenntnis der
Menschlichkeit und der unmenschliche Charakter des Menschen können nicht die
Gewissheit der Berufung des Menschen, die Verklärung der Welt betreffend,
entkräften. Nichts kann den Glauben an die Bestimmung des Menschen erschüttern,
denn dieser Glaube "hängt mit metaphysischen Abgründen zusammen". Von
daher die Versicherung Berdjajews: "Ich habe niemals meinen Glauben an die
schöpferische Berufung des Menschen verraten" (Autobiographie, S.
272).
Unter den auf die Verklärung
der Welt bedachten Schriftstellern hält Berdjajew einige Namen fest: Nietzsche,
Ibsen und besonders Gogol, Tolstoj, Dostojewskij (11). Die einen wie die
anderen besäßen ein scharfes Bewusstsein für den Menschen und seine Rolle, sie
begriffen, dass das Individuum nicht mit sich zufrieden sein könnte, da die
"Gott-Menschheit" das wesentliche Prinzip der Anthropologie sei.
Diese Verklärung der Welt
setzt das Ende der Welt voraus, wenigstens die Vorstellung einer gewissen
Gestalt der Welt. Ein neuer Himmel und eine neue Erde erfordern eine
vollkommene Veränderung von Himmel und Erde. Der schöpferische Akt, durch den
die Verklärung sich vollzieht, ist doch immer auf das Ende einer gewissen Zahl
hin orientiert. Die Grenzen überschreitend, ist es eschatologisch. Nikolai
Berdjajew hat an die Nähe der schöpferischen Epoche geglaubt; während gewisser
Zeit war es für ihn ein drohender Gedanke. Jedoch die Ereignisse: der Krieg,
die russische Revolution, die Staatsstreiche, die Zeit zwischen den beiden
großen Kriegen haben ihm das Gefühl einer Katastrophenzeit, einer harmonischen
Periode vorangehend, gegeben, einer Enthumanisierung vor dem Reich von Ordnung
in der Menschheit, eines dem Licht vorangehenden Niederganges. Berdjajew zeigt
an, was er "die entsetzliche Komödie der Geschichte", die neuen
Zeiten vorbereitend, nennt. Während dieser tragischen langen Jahre wird
Berdjajew sagen: "Ich versuchte, das Menschliche zur unmenschlichsten Zeit
zu predigen".
Die Verklärung der Welt
schien für unseren Autor nicht von einem Fortschritt oder von einer Evolution
abzuhängen. Berdjajew ist Anti-Evolutionist, er weist zum Beispiel die
Verbindung der Worte "schöpferische Entwicklung", die Bergson
benutzte, zurück (12). Die historischen Vorfälle bieten für ihn nur einen Wert von
Zeichen: sie zeigen etwas an; in sich sind sie der Wichtigkeit beraubt, denn
das authentische Leben lässt sie hinter sich zurück. Es existieren
"schöpferische Durchbrüche", Momente von Licht und von Dunkelheit,
Wendungen. Nikolai Berdjajew spielt an auf neue Aspekte des Universums, auf die
Entdeckung unbekannter Planeten. Die "schöpferischen Durchbrüche"
sind den Brüchen von Ebenen vergleichbar. Diese "schöpferischen
Durchbrüche", einem Durchbruch der Freiheit verbunden, können plötzlich
hervorquellen; sie zeigen sich schon durch die Zurückweisung der Notwendigkeit
und der sozialen Routine. An seinem Endpunkt kennt der schöpferische Akt
Augenblicke von schöpferischer Ekstase und von Kontemplation. Diese
Kontemplation ist niemals passiv, sie ist höchste Aktivität durch die Qualität
ihrer Tiefe. So zeigt sie sich als ein Eintauchen in eine andere Welt, ein
Jenseits von Objektivation, ein Durchdringen in eine existentielle Zeit. Dank
dieser Veränderung ist der Mensch ergriffen von dem schöpferischen Aufschwung
und dem Unsichtbaren verbunden, das ihn begeistert: "Die Kontemplation des
Hohen, des Schönen, des Harmonischen schließt ein Moment schöpferischer Ekstase
in sich [...]. Das Genie ist ein ergriffener Mensch; aber dieser ist ein
Schöpfer" (Autobiographie, S. 280f).
Die Zeit ist auch
überschritten, der schöpferische Aufschwung gehört zur Ewigkeit, in der sich
Gott und der Mensch begegnen. So folgen sich in der Zeit und im Menschen die
Offenbarungen: diejenige des Vaters, diejenige des Sohnes, diejenige des
Geistes durch das Schaffen des Menschen. Nach Nikolai Berdjajew ist es
unmöglich, chronologisch die Grenzen dieser verschiedenen Perioden festzulegen.
Außerdem, keine Zeit ist bis zu ihrem Ende erlebt worden. Bevor sie ihre
Vollkommenheit erreicht hat, führt sie in eine neue Dimension: "in der
dritten Epoche offenbart sich schließlich der göttliche Charakter der
schöpferischen Natur des Menschen, und die göttliche Macht wird zu einer
menschlichen Macht. Die Offenbarung über den Menschen ist doch schließlich die
göttliche Offenbarung der Trinität. Das letzte Geheimnis wohnt darin, dass das
göttliche Mysterium und das menschliche Mysterium nur ein Mysterium sind, dass
in Gott die Mystik des Menschen und im Menschen das Geheimnis Gottes aufbewahrt
ist. Gott entsteht im Menschen und der Mensch entsteht in Gott. Offenbart zu
sein bis zum Ende bedeutet für den Menschen, Gott zu offenbaren" (Der
Sinn des Schaffens, S. 406) […]. Indem der Mensch sein Antlitz enthüllt,
enthüllt er das Antlitz Gottes (13).
Anmerkungen
[Aus dem Französischen
übersetzt und mit zusätzlichen Anmerkungen in eckigen Klammern versehen von
Klaus Bambauer.
*Übersetzung aus: Madeleine Davy, Nicolas Berdiaev ou la révolution de
l'Esprit, Paris 1999, S. 103-122. Wir schreiben den Namen des russischen Autors
nicht in der französischen Schreibweise (Nicolas Berdiaev) sondern in
der in Deutschland meist üblichen: Nikolai Berdjajew. Die Autobiographie
Berdjajews wird von der Autorin jeweils in der französischen Fassung zitiert.
Dies betrifft auch die übrigen Originalwerke Berdjajews. Siehe auch Paul Klein,
Die "kreative Freiheit" nach Nikolaj Berdjajew, Regensburg 1976.]
1) A.Koyré, La philosophie de
Jacques Boehme, Paris 1929, S. 393. Zit. Koyré, Boehme.
2) [N.Berdjajew, Jakob Böhmes
Lehre von Ungrund und Freiheit, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Heft 3
(1932), S. 319-336.]
3) [Dieser französische Titel
entspricht der deutschen Übersetzung "Die Philosophie des freien
Geistes", Tübingen 1930].
4) [Hier wird der von
Berdjajew aufgenommene Gedanke Kants, dem sich der russische Denker besonders
verpflichtet fühlte, deutlich zwischen der noumenalen Welt – dem Reich der
Freiheit – und der phänomenalen, natürlichen Welt. Die Freiheit gründet für
Berdjajew in der noumenalen Welt, in der Kant das Ding-an-sich
angesiedelt hat.]
5) Vgl. N.Berdjajew, Geist
und Wirklichkeit, Lüneburg 1949, S. 157ff.
6) Vgl. Existentielle
Dialektik [des Göttlichen und Menschlichen], Paris 1947, (frz. Ausgabe) S. 116.
7) Vgl. die von A.Koyré
gegebene Interpretation in: Koyré, Boehme, S. 327.
8) Koyré, Boehme, S. 321f.
9) Vgl. Koyré, Boehme, S.
337.
10) Der Sinn der Geschichte,
S. 42.
11) [Vgl. dazu: Wolfgang
Dietrich, Nikolai Berdjajew – Partner des Denkens, Provokation der Person, Bd.
3, Gelnhausen 1975, S. 21-38 (zu Nietzsche), zu Tolstoj (a.a.O., S. 59-75), zu
Ibsen (a.a.O., S. 51-58), zu Dostojewskij (a.a.O., S. 3-20). Zit. Dietrich,
Provokation der Person, Bd. 3.]
12) [Vgl. zu Bergson,
Dietrich, Provokation der Person, Bd. 3, S. 185-190.]
13) [Von diesem letzten Satz
aus wäre eine Brücke zu schlagen zu den Überlegungen von Max Picard oder
E.Levinas. In dem Buch von Max Picard, Briefe an den Freund Karl Pfleger,
Erlenbach 1970, hat K.Pfleger eine bemerkenswerte Studie unter die Überschrift
gestellt "Gott im Antlitz?" (a.a.O., S. 89-107). Es war bekanntlich
M.Picards Anliegen, sich mit der divinatorischen Ausstrahlung des menschlichen
Gesichtes zu beschäftigen. Vgl. dazu auch im erwähnten Buch den Aufsatz des
Sohnes Michael Picard, Max Picard, Mensch und Werk (S. 137-156). Hier heißt es:
"Das, was im Menschen unvergleichlich ist, was ihn überhaupt erst zum
Menschen macht und wovon sein Gesicht der sichtbare Ausdruck ist, das geht in
der Welt und in ihrem Wissen nicht mehr auf. Es wird deshalb verständlich, das
Gesicht allein vom Absoluten her zu erkennen. Mein Vater hat den Raum zwischen
dem kleinen Rund des Gesichtes und dem Absoluten zum Sprechen gebracht"
(a.a.O., S. 140). In einer Fußnote der gleichen Seite weist Michael Picard
darauf hin: "Emanuel Levinas hat als erster diesen Charakter des Gesichtes
philosophisch erkannt (vgl. Totalité et Infini, Den Haag 1961; La
signification et le sens, in: Revue de Métaphysique et de Morale, 1964). Mein
Vater ist in den letzten Jahren seines Lebens mit den Werken Levinas bekannt
geworden, und er hat sie zum Bedeutendsten gezählt, dem er begegnet ist".
Es wäre sicher einer besonderen Untersuchung wert, im Blick auf die
angesprochene Thematik Beziehungen zwischen M.Picard, E.Levinas und N.Berdjajew
herzustellen].