Florensov 2
Zu diesem erfahrenen und
heiligen Starez, weiser geworden durch die Widerstände des Lebens, wurde
P.A.Florenskij, damals Student an der Abteilung für Physik und Mathematik der
Moskauer Universität, Anfang März 1904 durch Göttliche Vorsehung zur geistlichen
Führung geleitet. Bischof Antonij (Florensov) war zu dieser Zeit 57 Jahre alt,
während der zukünftige Priester und bedeutende Denker 22 Jahre zählte.
Für P.A.Florenskij setzte
eine Periode intensiver Suche ein. Der geistliche Wendepunkt, den er im Sommer
1898, im 17. Lebensjahr, erfahren hatte, führte zur Entdeckung eines neuen
Interessensgebietes. Es ging ihm darum, eine Synthese von Kirchlichkeit
(cerkovnost') und weltlicher Kultur zu entwickeln.
Die geistliche Führung, die
P.A.Florenskij durch Vladyka Antonij zuteil wurde, war manchmal wie die
filigrane Abeit eines Juweliers, während sie zu anderer Zeit dem Werk eines
Schmiedes glich, der am Amboss hämmert.
Da P.A.Florenskij im Buch
seines Lebens eine neue Seite aufschlagen und Mönch werden wollte, um sich ganz
dem Dienst der Kirche zu widmen, wies er das Angebot zurück, das ihm Professor
N.Žukovskij und Professor N.Bugaev gemacht hatten, an der Fakultät für
Mathematik der Moskauer Universität zu bleiben. Vladyka Antonij war entschieden
dagegen, dass Florenskij Mönch wurde. Er wandte sich auch gegen eine
übertriebene Askese. Er riet P.A.Florenskij lediglich, in die Moskauer
Geistliche Akademie einzutreten.
Obwohl Bischof Antonij im
Ruhestand lebte, hielt er doch immer Schritt mit den jüngsten Entwicklungen in
der Kirche und im religiösen Leben, die Moskau am Beginn des 20. Jahrhunderts
beherrschten. Er war gut bekannt mit den Führern der verschiedenen religiösen
und mystischen Richtungen; einige von ihnen besuchten ihn. Vladyka Antonij nahm
sich besonders das Interesse der jungen Menschen dieser Zeit für
außerchristliche und antichristlichen Mystik, Theosophie und Okkultismus zu
Herzen. Er hatte seine eigene Pädagogik im Umgang mit ihnen. Er sagte über den
Dichter Andrej Belyj: "Er ist ein eleganter und empfindsamer Mensch; was
er braucht, ist ein klares Fundament und nicht etwas nebelhaft Verschwommenes.
Ich habe ihn lange beobachtet, aber da er stolz und empfindlich ist, werde ich
nicht in seine Seele eindringen. Wenn er von sich aus zu mir käme – das wäre
etwas anderes. Ich bin kein Prophet, aber ich sehe voraus, dass er
zugrundegehen wird, wenn er sich nicht längere Zeit schont. Ich weiß, dass er
lange experimentiert hat (indem er in sich selbst okkulte Kräfte aktivierte)
seit dem Tode seines Vaters (N.Bugaev, 1837-1903, Professor der Mathematik an
der Universität Moskau). Er wird sich selbst verwüsten für nichts und wieder
nichts. Dies ist schade, denn er ist ein Mensch mit Talent". (3) Um der
Attraktion des Okkultismus auf die jungen Menschen entgegenzuwirken, entschied
Vladyka Antonij, eine gelehrte Bruderschaft in dem ungenutzten Kloster des hl.
Andreas zu Moskau zu gründen, zum Zweck der erzieherischen und missionarischen
Arbeit. P.A.Florenskij nahm aktiven Anteil an den Plänen für dieses Projekt.
Von September 1908 an leitete
P.A.Florenskij die Abteilung für Philosophiegeschichte an der Moskauer
Geistlichen Akademie. Am 17. August 1910 heiratete er Anna Michajlovna
Giacintova und am 24. April 1911 wurde er zum Priester geweiht. Seine Wahl war
endgültig getroffen. Bei der Führung seines geistlichen Sohnes neigte Vladyka
Antonij beharrlich zum goldenen Mittelweg. Während er sich vorher gegenüber
P.A.Florenskijs Wunsch, in ein Kloster einzutreten, ablehnend verhielt, warnte
er ihn jetzt, sich mit Gemeindearbeit zu übernehmen. Er riet ihm, sich ganz auf
die Wissenschaft zu konzentrieren.
Am 19. Mai 1914 verteidigte
Vater Pavel Florenskij seine Magisterdissertation an der Moskauer Geistlichen
Akademie. (4) Sein Disputationsgegner, S.S.Glagolev, kritisierte Florenskijs
Feststellung, Gott habe sich selbst begrenzt, als er dem Menschen Freiheit gab.
(5) Vladyka Antonij dagegen stand auf der Seite Florenskijs. Dazu verwies er
auf die Entäußerung Christi (vgl. Phil 2,6-8). Seine geistliche Tochter,
A.V.Martynova schrieb: "Vladyka lobte sehr Vater Pavels Eingangsvortrag:
Es schien als ob ein Adler sich hoch in den Himmel erhob, sagte er, und ich
fürchtete, dass dieser Adler von uns weg fliegen könnte".
Vom Dezember 1914 bis zum 23.
Februar 1915 fuhr Vater Pavel Florenskij im Černigov-Hospitalzug des Roten
Kreuzes an die Front. Als Vladyka Antonij hörte, dass er nach dieser Zeit noch
einmal wegfahren wollte, sprach er sich dagegen aus. Sein Grund war nicht, ihn
vor Kriegsgefahren zu bewahren, sondern wie in der Vergangenheit, als er ihn
vom Eintritt ins Kloster oder von der Tätigkeit in der Gemeindearbeit abhielt,
meinte er, dass es Vater Pavel Florenskijs Pflicht und kirchlicher Gehorsam
sei, in der Geistlichen Akademie zu lehren und sich in theologischen und
anderen wissenschaftlichen Studien zu engagieren. Zu dieser Zeit lebte Vladyka
Antonij in ärmlichen Verhältnissen. Er litt unter seiner Unfähigkeit, den
Notleidenden zu helfen. Er schrieb: "Alles, womit ich helfen kann, sind
Gebet und Glaube an Heilung".
In Verbindung mit den Plänen,
ein all-russisches Kirchenkonzil zusammenzurufen, arbeitete Vladyka Antonij zu
dieser Zeit an den kanonischen Aspekten der Kirchenleitung. Am 17. März 1916
schrieb er Thesen unter dem Titel: Die Stimme des Bischofs. Er führte aus: "Wenn
die Kirchenleitung kanonisch sein soll, muss sie auf dem Prinzip der Sobornost'
gegründet sein; Bischöfe müssen die Berufung haben; die Wahl gehört Gott und
nicht den Menschen, darin besteht der Dienst in der Nachfolge der
Apostel". Vladyka Antonij betonte die spezielle Verantwortlichkeit der
Bischöfe bei der Priesterweihe.
In einem späteren Brief,
datiert vom 15. Januar 1918, betreffend die Ernennung von Vater Ioann Arsen'ev
zum Vorsteher einer Kathedrale in Moskau, drückte Vladyka Antonij seine
Ansichten darüber aus, was der Vorsteher einer Gemeinde darstellen sollte. Dies
war gleichsam eine Zusammenfassung seiner Prinzipien der geistlichen Führung:
"Er darf kein Fremder, sondern muss jemand vom Ort sein, ein Mensch des
Lernens, unparteiisch gegenüber Menschen und Ereignissen; ein Engel des
Friedens".
Vladyka Antonij näherte sich
nunmehr dem Ende seines Lebens. Als ein weiser Starez pflegte er zu sagen:
"Das passendste Schriftstudium für die Jugend sind die Sprüche Salomos;
hier lernt der Geist, Rätsel zu lösen. In den mittleren Jahren, wenn die Rätsel
gelöst sind und man zu wissen hat, was im Leben zu tun ist, lies den Prediger
Salomo. Im Alter sollte man Lieder singen, denn das Leben ist vorüber; dann
sollte man das Lied der Lieder lesen. Christliche Freiheit und Liebe sind ein
und dasselbe. Freiheit ist in der Liebe, und Liebe ist in der Freiheit. Die
Grundlage von allem ist die Gottesfurcht."
Vladyka Antonij starb am 20.
Februar 1918, fast 72 Jahre alt. Seine Begräbnisfeier fand am 23. Februar in
Gegenwart einer großen Zahl von Menschen im Kloster der Gottesmutterikone vom
Don statt. Metropolit Manuil Lemeševskij bezeugt, dass Vladyka Antonij in
Moskau als ein tief rechtschaffener Mann und als ein großer Asket verehrt
wurde. In Moskau gedachten hunderte und tausende von Gläubigen seiner im Gebet.
Nach dem Tode von Vladyka
Antonij sammelte sein geistlicher Sohn, Vater Pavel Florenskij, biographische
Materialien über ihn (von 1918 bis 1921), um ein spezielles Werk über dieses
Thema zu schreiben. Er wurde unterstützt bei dieser Arbeit von Vladyka Antonijs
Zellendiener, Aleksandr Vladimirovič Želtovskij sowie Vladykas geistlichen
Töchtern – A.V.Martynova, Ch.S.Arsen'eva, E.M.Grigorova – und Vladyka Antonijs
Neffen, V.Kerenskij.
Anmerkungen
von Heinrich Michael Knechten
Vgl. Ierodiakon Andronik,
Episkop Antonij (Florensov) – duchovnik svjaščennika Pavla Florenskogo, in:
Žurnal Moskovskoj Patriarchii 1981, Nr. 9, 71-77; Nr. 10, 65-73; Ders., Antonij
(Florensov Michail Simeonovič), in: Pravoslavnaja ėnciklopedija 2 (2001), 645f.
(1) Zacharija Kopystenskij
schreibt um 1621/1622 sein Hauptwerk "Palinodija ili kniga oborony
kafoličeskoj svjatoj apostol'skoj vschodnej cerkvi". Es verteidigt darin
die Orthodoxie. Vgl. M.S.Florensov, "Palinodija" Zacharija Kopystenskogo,
in: Kievskie eparchial'nye vedomosti 1873, Nr. 24, 729-742; V.Z.Zavitnevič,
Palinodija Zacharija Kopystenskago i eja mesto v istorii zapadno-russkoj
polemiki XVI i XVII vekov, Warschau 1883. Das griechische Wort παλινω̣δία bedeutet: Widerrufung des vorigen Gesanges
(Stesichoros, griechischer Chorlyriker, 7./6. Jh. v. Chr., lobt die vorher von
ihm getadelte Helena), dann allgemein: Widerruf.
(2) Во Владыке Антонии было
необычайно сильное сознание в себе силы и власти епископа Вселенской Церкви.
(3) Vgl. "Zoloto v
lazuri" Andreja Belogo. Kritičeskaja stat'ja (Sommer 1904), in:
Svjaščennik Pavel Florenskij, Sočinenija, Bd. 1, Moskau 1994, 695-699; Andrej
Bely / Pawel Florenski, "...nicht anders als über die Seele des
anderen." Der Briefwechsel. Texte, hg. v. F. u. S.Mierau, Übers. u.
Vorwort v. F.Mierau, Ostfildern 1994. Siehe auch: L.Silard, A.Belyj i
P.Florenskij, in: Studia Slavica (Budapest) 1987, Nr. 33 (1-4), 227-238.
(4) Vgl. Pavel A. Florenskij,
O Duchovnoj istine, Moskau 1912; Ders., Vstupitel'noe slovo pered zaščitoj na
stepen' magistra knigi "O Duchovnoj Istine", skazannoe 19 maja 1914
g., Sergiev Posad 1914; Ders., Stolp i utverždenie Istiny, Moskau 1914
(Nachdruck: Moskau 1990). Siehe auch: Sergej Sergeevič Glagolev, Otzyv na knigu
o. Pavla Florenskogo "O Duchovnoj Istine", in: Žurnaly sobranij
Soveta Imperatorskoj Moskovskoj Duchovnoj akademii za 1914 god, Sergiev Posad
1916, 76-85 (Nachdruck in: P.A.Florenskij: Pro et contra, St.Petersburg 2001,
244-251.
(5) Der Gedanke der
Selbstbegrenzung Gottes durch das Geschenk der Freiheit an den Menschen stammt
von J.Böhme und wird von N.A.Berdjaev aufgegriffen. Vgl. M.Jovanovič,
"Stolp i utverždenie Istiny" P.Florenskogo: Sjužet, žanr i istoki,
in: P.A.Florenskij i kul'tura ego vremeni, hg. v. M.Hagemeister u.
N.Kauchtschischwili, Marburg 1995, 443-466.