Berdjajew, Vereinigung der Christen 2
Die
orthodoxen Denker pflegen des öfteren über das filioque herzufallen,
weil in dieser Formel sich gleichsam die subordinierte Stellung des Heiligen
Geistes, "Subordinationalismus" [sic] im Begreifen der dritten
Hypostase ausdrückt und ein Christozentrismus behauptet wird, der den Heiligen
Geist daran behindert, sich frei in die Welt und über die Menschheit zu
ergießen. Die Orthodoxie ist in ihrem Urgrunde ein Christentum, welches die
Natur des Heiligen Geistes erschließt. Darum ist sie dem Mysterium der
Auferstehung und der Verklärung der Kreatur zugewandt. Das vornehmste Fest der
Orthodoxie ist das Fest der Auferstehung Christi. Im westlichen Christentum
steht im Mittelpunkt das Kreuz, Golgatha. Der geistige Typus des östlichen
Christentums, der Orthodoxie, birgt große Schwierigkeiten für ein historisches
Leben, für die Schaffung einer Kultur in sich. Die eschatologische Einstellung
der Orthodoxie, ihr Hingewendetsein zum ewigen Leben, zum Weltende hatte [S.
193] zur Folge, daß die Aufbauarbeit des Lebens ausschließlich dem Staate, dem
Zaren, dem von der Kirche für das Zartum Gesalbten auferlegt wurde. Die Kirche
wurde dem Staate nicht gleichgesetzt, und sie nahm die Aufgaben des Staates
nicht auf sich, doch unterwarf sie sich äußerlich dem Staat und wurde mitunter
vom Staate unterjocht, wie dies in Byzanz und auch in Rußland in der
petrinischen Periode der Fall war. Die eschatologische Gestimmtheit
paralysierte mitunter die schöpferische Energie der Orthodoxen. Doch nahm das
apokalyptische Bewußtsem bei den russischen religiösen Denkern des XIX.
Jahrhunderts nicht selten einen aktiveren, schöpferischen Charakter an und war
mit dem Glauben an den Beginn einer neuen pneumatischen Epoche im Christentum
verknüpft. Der Parakletismus ist vielen russischen religiösen Denkern eigen.
Die Orthodoxie hat mehr denn das Christentum des Westens die Wahrheiten der
alten Kirche unangetastet bewahrt, und sie steht dem Urchristentum näher. Doch
auf dem geistigen Grunde der Orthodoxie ist ein apokalyptisches Bewußtsein,
prophetisches Ahnen eher möglich, da sie durch historische Aktivität weniger in
Anspruch genommen ist, welche ja die Perspektive der endlichen Schicksale der
Menschheit verhüllt. Der Katholizismus hat sich in der Geschichte zu stark
aktualisiert. In der Orthodoxie sind gewaltige, noch nicht zum Ausdruck
gebrachte und noch nicht ausgelebte geistige Kräfte verborgen. Ich als
Orthodoxer muß die geistige Ueberlegenheit meiner Kirche anerkennen. Ich denke
aber, daß die individualisierten geistigen Typen des östlichen und des
westlichen Christentums ihre Existenzberechtigung haben und bis ans Ende der
Welt behalten müssen. Keiner dieser Typen und dieser Wege stellt die Fülle des
Christentums dar. Die Oekumenizität des Christentums bleibt potentiell, ist
nicht völlig aktualisiert und äußerlich zum Ausdruck gebracht. [S. 194] Wenn
sie aber zum Ausdruck kommt, so wird damit eine neue Epoche des Christentums
anheben, eine größere Fülle im Leben der Kirche, ein integraleres
geschlosseneres, kosmischeres Verstehen der Kirche. Die individualisierten
Typen des Christentums müssen bestehen bleiben, da sie zu dessen Reichtum
beitragen, aber Hader und Feindschaft müssen aufhören. Wir beten um eine
Verbindung der Kirchen, um die Einheit der christlichen Welt. Aber welche Wege
müssen wir beschreiten, um zu dieser Einheit zu gelangen?
Das
Zustandekommen der Einheit der christlichen Welt, den endgültigen Triumph der
ökumenischen Kirche pflegt man sich häufig in der Form einer Vereinigung der
Kirchen vorzustellen. Man glaubt, das Streben der Christen des Ostens und des
Westens zur Einheit müsse sich in der Form einer Vereinigung der Kirchen
Ausdruck schaffen. Allein die Idee einer Vereinigung der Kirchen ist ihrem Wesen
nach eine nicht aufrichtige, eine unwahre Idee. Sowohl die Orthodoxen als die
Katholiken glauben, daß die Kirche einheitlich ist, daß sie sich nicht spalten
und darum auch gar nicht vereinigen kann. Das religiös-kirchliche Leben ist
keine Politik; es kann innerhalb dieses Lebens nichts derartiges wie politische
Blocks, Uebereinkommen, gegenseitige Konzessionen, allerhand diplomatische
Listen geben. Schließlich stellen sich die Katholiken unter einer Vereinigung
der Kirchen eine Angliederung der Orthodoxen an die eine wahre, katholische
Kirche vor, und die Orthodoxen – eine Angliederung der Katholiken an die eine
wahre orthodoxe Kirche. Schon die Wortverbindung "Vereinigung der
Kirchen" erweist sich als eine List, die von beiden Parteien alsbald
bemerkt wird. Vielleicht war Wladimir Solowjew der einzige, wirklich
aufrichtige Vertreter der Idee einer Vereinigung der Kirchen, da er die
Unzulänglichkeit einer jeden Kirche und die Möglichkeit einer gegenseitigen
Ergänzung erkannte. Doch [S. 195] maß er dem Uebereinkommen der kirchlichen
Regierungen eine zu große Bedeutung bei. In Wirklichkeit kann die Einheit und
Einigung der ganzen christlichen Welt nicht Angelegenheit der kirchlichen
Regierungen, deren Verhandlungen und Uebereinkommen, unaufrichtiger Unionen sein,
– vielmehr wird sie in der Tiefe und nicht an der Oberfläche erreicht Diese
Einheit kann nur in der mystischen Sphäre, in der Sphäre des geistigen Lebens
und der geistigen Erfahrung erworben werden, nicht aber an der Oberfläche
kirchlicher Politik. Für die christliche Einheit ist es erforderlich, die
Bedeutung der Kirchenpolitik, die von jeher der Quell alles Haders in der
Christenheit war, zu verringern, sie auf ein Minimum zu reduzieren, und es ist
erforderlich, das sündige Streben nach Macht zu ersticken. Uns Orthodoxen fällt
dies leichter, da die Kirchenpolitik bei uns eine verhältnismäßig geringere
Rolle gespielt hat. Alles Reden und alle Unterhandlungen über die Vereinigung
der Kirchen ist die schlechteste Methode für eine Vereinigung der Christen des
Ostens und des Westens, – sie führt gewöhnlich nur zu vermehrtem Zwist. Nicht
an der Oberfläche, nicht horizontal, nicht räumlich-geographisch muß man sich
weiterbewegen, sondern in die Tiefe und in die Höhe, – also vertikal. Die
Einheit der christlichen Welt kann man in der Tiefe und in der Höhe erlangen,
wo alle in Christus geeint sind, nicht aber auf der horizontalen Oberfläche, wo
Hader und Spaltungen herrschen. Der Orthodoxe und der Katholik können in ihrer
Kirche, in ihrem konfessionellen Typus verbleibend, in der Höhen- und
Tiefendimension zur Einheit und Brüderlichkeit gelangen und die Trennung
überwinden. Die Vereinigung der Kirchen kann nur ein Werk des Heiligen Geistes
sein, und dieses Werk wird eine wunderbare Tatsache der Weltgeschichte werden.
Wir vermögen uns nicht diese Aufgabe zu stellen, indem wir Politik anstelle der
[S. 196] Pneumatik setzen. Wir können und müssen uns aber eine andere Aufgabe
setzen – die Einigung der Christen des Ostens und des Westens, der Orthodoxen
und der Katholiken, ja auch der Protestanten, für welche die Frage nicht
dieselbe kirchliche Aktualität hat, geistige Gemeinschaft, gegenseitiges
Kennenlernen und ein liebevolles Verhalten zueinander. Das ist nicht eine
formale Frage, sondern eine dogmatische und kirchlich-kanonische Frage, es ist
das eine Frage des geistigen Gerichtetseins, eine Frage der geistigen
Erfahrung. Nicht eine Vereinigung der Kirchen ist zu erstreben, sondern eine
Vereinigung der Christen, ein gegenseitiges Sichkennenlernen und vermehrte gegenseitige
Liebe der Christen aller Konfessionen und Ueberwindung der gegenseitigen
Feindschaft und des Haders. Die Feindschaft und der Haß der Christen
verschiedener Konfessionen ist eine der schmachvollsten Tatsachen der
Weltgeschichte. Auch angesichts der Einigung, der Konzentration und der
ungemeinen Aktivität der antichristlichen Kräfte in der Welt ist diese Tatsache
geradezu verbrecherisch zu nennen. Der Antichrist ergreift immer mehr und mehr
Besitz von der Welt, die Christen aber leben in Streit, Hader und Zwist.
Vielleicht wird dem Geiste des Antichrist das Verdienst zufallen, die Einigkeit
der christlichen Welt gefördert zu haben. Für die Orthodoxen ist ein Austausch
und eine Einigung, und zwar eine durchaus aufrichtige, offen gemeinte Einigung,
leichter als für die Katholiken, weil dem orthodoxen kirchlichen Bewußtsein die
Idee der äußeren Autorität fremd ist. Wir sind freier. Mitunter stellt man sich
den Unterschied zwischen der Orthodoxie und dem Katholizismus unrichtig vor,
indem man annimmt, die Orthodoxie erblickte die äußere kirchliche Autorität in
einem Konzil von Bischöfen, d.h. indem man sie sich als aristokratisch
konstituiert vorstellt, während der Katholizismus die kirchliche Autorität im
Papst ver- [S. 197] treten sieht, d.h. sie sich monarchisch denkt. Tatsächlich
liegt der Unterschied darin, daß die Orthodoxie die Idee der äußeren
kirchlichen Autorität vollständig negiert, wie dies in hervorragender Weise von
dem hochbedeutenden russischen Theologen Chomjakow klargelegt worden ist. Dem orthodoxen
Bewußtsein zufolge ist das kirchliche Volk, der Geist der Oekumenizität, der
eigentliche Schützer der Wahrheit. Daher ist für das orthodoxe Bewußtsein die
kirchlich-organisatorische Frage nach dem Kirchenregiment nie die wichtigste
Frage gewesen, vielmehr war die wichtigste Frage stets die der geistigen
Erfahrung. Sowohl für die Orthodoxen als für die Katholiken besteht immer die
Möglichkeit für eine Vereinigung der christlichen Welt zu beten, die fremde
Konfession genauer kennen zu lernen und zu erforschen, Zwist und Feindschaft zu
überwinden, Wohlwollen und Liebe zueinander zu mehren und in ein
ökumenisch-geistig-brüderliches Verhältnis in Christo zueinander zu treten. Die
Orthodoxen kennen den Katholizismus auch äußerlich schlecht; die Katholiken kennen
die Orthodoxie fast gar nicht. Die Orthodoxen verhalten sich mißtrauisch zum
Katholizismus; die Katholiken hinwiederum bringen der Orthodoxie Verachtung
entgegen. Eine solche geistige Atmosphäre darf fürderhin nicht geduldet werden.
Wir müssen bekennen, daß uns ein Verkehr mit dem offiziellen
Regierungskatholizismus schwer fällt; uns ist das herrschende System der
katholischen Theologie fremd, fremd ist uns auch die Kirchenpolitik des
Vatikans. Wir können aber die katholischen Heiligen, die katholische Mystik,
die Schönheit des katholischen Kults und die Unverfälschtheit der katholischen
Frömmigkeit im Volke lieb gewinnen, vermögen auch die soziale Bedeutung des
Katholizismus zu würdigen.
Das
Reich Gottes naht unsichtbar [vgl. Lk 17,20]; aus der Tiefe heraus wird es
erschaffen. Jeder von uns kann an der [S. 198] Schaffung von Keimzellen des
einigen, christlichen geistigen Organismus mitarbeiten. Der Orthodoxe kann
Orthodoxer und der Katholik Katholik bleiben. Aber aus dem Inneren seines
konfessionellen Typs heraus kann jeder der Einheit und der Oekumenizität
zustreben, indem er die Oekumenizität innerlich geistig, nicht aber äußerlich
organisatorisch faßt. Die Zeiten für eine größere Einigkeit der Christenheit
sind angebrochen. Die Lage des Christentums in der Welt hat sich ausgesprochen
verändert. Es ist nicht mehr eine äußerlich herrschende Macht. Gegen das
Christentum haben Verfolgungen eingesetzt. Und die historische Bewegung ist
nicht durch den Kampf der Katholiken und Protestanten, oder der Orthodoxen und
Katholiken, wie auch nicht dadurch bestimmt, daß die Heiden dem Christentum
unterworfen werden müssen, sondern durch den Kampf der christlichen Mächte
gegen die antichristlichen, gegen den Antichristen. Für die christliche Welt
des Westens ist die Frage der Ueberwindung des historischen Protestes, der mit
der Reformation verknüpft ist, und für den die Verantwortung nicht nur den
Protestanten aufzubürden ist, von Belang, genau so, wie für die russische
orthodoxe Welt die Frage der Ueberwindung der historischen Spaltung belangvoll
ist, für welche die Verantwortung ebenfalls nicht nur den Altrituellen
aufgebürdet werden darf. Dies sind die inneren Fragen der Christenheit des
Westens und der Christenheit des Ostens. Aber auch diese beiden Geisteswelten müssen
einander näher kennen lernen und sich geistig, nicht politisch, vereinigen.
Eine geistige Vereinigung ist bislang aber am wenigsten erstrebt worden. Die
Orthodoxie hat ein abgeschlossenes, isoliertes Dasein geführt. Es haben sich in
ihr gewaltige geistige Reichtümer aufgehäuft, die ihren Ausdruck noch nicht
gefunden haben und der Welt noch nicht kundgetan sind. Diese geistigen
Reichtümer werden auch der Welt des Westens von- [S. 199] nöten sein. Vom
russischen religiösen Denken, in welchem sich viele schöpferische religiöse
Ideen angesammelt haben, hat man im Westen so gut wie gar keine Vorstellung.
Hierin trifft uns selber die Schuld. Doch erkennen wir scheinbar nicht, daß die
Zeit für die Orthodoxie gekommen ist, aus diesem abgeschlossenen Kreise herauszutreten.
Unsere geistigen Kräfte sind in allzu großer historischer Aktivität und
Organisiertheit nicht verausgabt worden, und im russischen Volke ist die große
Fähigkeit vorhanden, eine christliche Wiedergeburt ins Leben zu rufen, wie auch
die Fähigkeit besteht, am Geiste des Antichrist Gefallen zu finden. Wir müssen
aber die historische Feindschaft und das Mißtrauen zum Katholizismus
überwinden. Diese Feindschaft und dieses Mißtrauen wurde durch die
Eroberungspolitik der katholischen Kirche genährt. Die grundlegende Bedingung
für eine Gemeinsamkeit und eine Vereinigung der Orthodoxen und der Katholiken
ist, daß die Eroberungspolitik ein Ende findet. Die Katholiken sollen aufhören,
das russische Volk als Objekt zu betrachten, das zum wahren Glauben bekehrt
werden muß; sie sollen in ihm ein religiöses Subjekt sehen, sollen sich
aufmerksam zu dem inneren, geistigen Leben des russischen Volkes und zu den
positiven geistigen Reichtümern der Orthodoxie verhalten. Das größte Hindernis
auf dem Wege geistiger Gemeinschaft und Einigkeit der Orthodoxen und Katholiken
ist diese Festlegung des Verhältnisses zu den Orthodoxen ausschließlich vom
Standpunkte derer Bekehrung zum Katholizismus aus. Die Selbstzufriedenheit
sowohl der Orthodoxen als der katholischen Welt muß überwunden werden. Diese
Welten enthalten nicht die ganze Fülle, und sie bedürfen der Ergänzung. Man
soll nicht eine Vereinigung um jeden Preis erstreben und sich dabei gleichviel
welcher Mittel bedienen. Eine erzwungene äußere Einheit, welche der inneren
geistigen Einheit nicht entspricht, hat nur ge- [S. 200] ringen Wert. Es bedarf
eines freien und offenen Umgangs ohne alles Mißtrauen und ohne Hintergedanken.
Ich wiederhole noch einmal, der Heilige Geist wird die Kirchen vereinigen, wenn
hierzu die Stunde gekommen ist, die Gottes Vorsehung bestimmt hat. Die
christliche Menschheit muß aber den geistigen Boden hierfür bereiten und eine
günstige psychische Atmosphäre schaffen. Ein derartiger geistiger Boden, eine
solche psychische Atmosphäre kann nur geistige Vereinigung in der Liebe,
gegenseitiges Kennenlernen, Gebet um ein und dasselbe und ein Hineinleben in
die Brüderlichkeit in Christo sein. Vielleicht wird die Kirchenvereinigung und
die Oekumenizität des Christentums sichtbar und erst völlig aktualisiert
werden, wenn das Ende der Zeiten, wenn die apokalyptische Epoche gekommen ist
(so denkt Wladimir Solowjew in seiner "Erzählung vom Antichristen");
innerlich aber danach streben, uns geistig darauf vorzubereiten, ist in jedem
Augenblick unseres Lebens unsere Pflicht.
Capareton
/ August 1925
Aus dem Russischen übersetzt von Reinhold von Walter