Dekaden 4
17) Bei der Dekade 2002
zeichnet Nicole Racine ein Portrait von Anne Heurgon-Desjardins. "Anne
Heurgon-Desjardins besaß zu sehr Persönlichkeit, um nur eine Erbin zu
sein", schrieb Maurice de Gandillac. Die Archive der Dekaden von Cerisy
offenbaren, dass sie nicht nur die empfangende Gastgeberin war, die die
Erfahrung und Erinnerung der Dekaden von Pontigny weitergab, sondern ebenso die
Seele eines Abenteuers, welches sie tief kennzeichnete, sowohl durch die
Themenwahl als auch durch die der eingeladenen Intellektuellen, ganzer
Generationen und Nationalitäten. Aber das soziale Bild von Anne
Heurgon-Desjardins, einer "maîtresse-femme", bietet nur ein
unvollkommenes Bild einer Persönlichkeit, die verborgen blieb. Wenn die Gründe
ihres Freitodes dem Biographen entgehen, so erlauben ihr unveröffentlichtes
Tagesbuch, ihre Notizen, ihre Korrespondenz dennoch, das Porträt einer Frau zu
zeichnen, indem sie zur ersten Person ihrer Freunde spricht (André Gide,
Charles Du Bos, Roger Martin du Gard, Ernst Robert Curtius, André Maurois), von
ihrer Lektüre, den Prüfungen ihrer Ehe, von ihrer religiösen Erfahrung, von der
Einsamkeit, vom Alter. Das Bild von Anne Heurgon-Desjardins wäre ungenau, wenn
man nicht auch an die verschiedenen Engagements erinnerte, die sie gegenüber
den politischen Problemen, zum Beispiel zur Zeit des Algerienkrieges,
eingenommen hat.
18) François Charles Mauriac
(1885-1970), französischer Novellist, Essayist, Poet, Journalist, Empfänger des
Nobelpreises für Literatur im Jahre 1952. Er gehört in die lange Tradition der
französischen römisch-katholischen Schriftsteller, die die Probleme des Guten
und des Bösen in der menschlichen Natur und in der Welt untersuchen. Vgl. zu
ihm ausführlich: Bautz,
Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon Bd. XV (1999), Sp. 947-988.
19) Maurice de Gandillac,
französischer Philosoph, lehrte von 1946 bis 1977 an der Sorbonne/Paris.
20) Kostas Axelos wurde 1924
in Athen geboren und ließ sich 1945 in Paris nieder. Er lehrte Philosophie an
der Sorbonne, war Chefredakteur der Zeitschrift "Arguments"
(1956-1962) und gründete im Jahre 1960 die Sammlung "Arguments". Vgl.
auch B.Waldenfels, a.a.O., S. 45.
21) Jean Beaufret
(1907-1982), französischer Philosoph. Zum Professor in Guéret ernannt,
beschäftigte er sich zunächst mit Valéry, der Psychoanalyse, André Breton und
Eluard ebenso wie mit der deutschen Romantik. Auf philosophischem Gebiet lagen
seine Schwerpunkte bei Fichte, Hegel und Marx. Er machte Bekanntschaft mit
Maurice Merleau-Ponty und lehrte in Grenoble, dann in Lyon. In dieser Zeit
entdeckte er Husserl und Heidegger. Als Heidegger Jean Beaufret erstmals 1946
begegnete war er überrascht von der Freiheit, die er in ihm (Beaufret) spürte.
Bei allem Unterschied zu Hannah Arendt wurde Jean Beaufret niemals Schüler von
Heidegger. Zu dieser Zeit war er 39 Jahre alt. Heidegger wird von ihm sagen,
indem er über "Sein und Zeit" spricht: "Er hat mich gern
gelesen". Jean Beaufret wird tatsächlich der erste sein, der die tiefe
Originalität des heideggerschen Denkens ermessen hat. Von Heidegger übernahm
er, einen phänomenologischen Blick auf die Geschichte der Philosophie zu
werfen. Als Heidegger sein Seminar "Zeit und Zeit" 1962 eröffnete,
lud er Jean Beaufret ein. Zwanzig Jahre später (1947) hat er ihm seinen
"Brief über den Humanismus" übersandt. Nach der Befreiung lehrte Jean
Beaufret in Khagne am Lycée Henri IV von 1949 bis 1953, dann am Lycée Condorcet
von 1955 bis 1972. Was die Beziehungen Heideggers zu Frankreich angeht, so
hatte er bereits 1937 eine Einladung zum Pariser Descartes-Kongress erhalten.
Die ersten offiziellen Frankreichbesuche fallen in die 50er Jahre (so Pontigny
1955). Zu den frühen Heidegger-Übersetzern gehörte auch der Orientalist Henri
Corbin, der "einer existentialistischen und anthropologischen
Heidegger-Deutung Vorschub leistet, indem er beispielsweise Heideggers
"Dasein" mit "réalité humaine" übersetzt, was später korrigiert
wird (Waldenfels, a.a.O., S. 37).
22) Beda Allemann (1926-1991)
war Professor für zeitgenössische deutsche Literatur und Literaturwissenschaft
an der Universität Bonn sowie Herausgeber der kritischen Textausgabe von Celan.
23) Lucien Goldmann (1913-1970),
französischer Philosoph und Soziologe. Er erarbeitete eine Soziologie des
literarischen Schöpfertums.
24) Gabriel Marcel
(1889-1971) gilt neben J.P.Sartre, Martin Heidegger und Karl Jaspers als
bedeutendster Existenzphilosoph. Er wurde nicht nur durch seine philosophischen
Essays und Tagebücher, sondern auch durch seine 28 Bühnenwerke bekannt. Er
wirkte als Philosophielehrer in Vendôme, Paris, Sens und Montpellier und wurde
1952 Mitglied und Professor des berühmten Institut Français und 1929 Mitglied
der katholischen Kirche. Ihm zur Seite stand Charles Du Bos, der zur Bewegung
der Renouveau Catholique gehörte. Über die freundschaftlichen Beziehungen
N.Berdjajews zu Gabriel Marcel vgl. "Selbsterkenntnis": "Gabriel
Marcel war jüngst konvertiert. Er war Philosoph, zugleich Dramaturg; aber seine
Philosophie war ganz anderer Art als die Maritains; er war Exponent der
Existenzphilosophie in Frankreich. In den Fragen theologischer und dogmatischer
Art fühlte er sich noch recht hilflos. Später lernte ich ihn schätzen, wenn er
bei den Aussprachen über rein philosophische Fragen das Wort ergriff" (S.
295). Donald
A.Lowrie, N.Berdyaev - A Rebellious Prophet, London 1960, ergänzt:
"Berdyaev derived pleasure from meetings held at Gabriel Marcel’s home –
international gatherings with discussion limited to truly philosophical
problems, particularly those concerning existentialism and phenomenology"
(S. 200).
25) Paul Ricœur, *27.2.1913
in Valence/Frankreich, französischer Philosoph, 1948 Professor für Geschichte
der Philosophie an der Universität Straßburg in der Nachfolge von J.Hyppolite
(1907-1968), 1950 promoviert er an der Sorbonne mit einer Arbeit über die
Verknüpfung der christlichen Existentialphilosophie Marcels und der
phänomenologischen Methode Husserls, erhält 1956 an der dortigen Fakultät den
Lehrstuhl für Allgemeine Philosophie. Er ist als einer der bedeutendsten
Experten für Phänomenologie und Husserl-Kenner ausgewiesen. Er stirbt am
20.5.2005. Vgl. Bautz,
Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon Bd. VIII (1994); Sp. 261-299
sowie auch Bernhard Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt 1983,
S. 266-335.
Der genannte J.Hyppolite hat die Interpretationsarbeit des von Alexandre Koyré
(selbst Husserl-Schüler) geprägten und gebürtigen Russen Alexandre Kojève
(1902-1968), der bei K.Jaspers (Heidelberg) mit einer Arbeit über Solowjew
promoviert hatte, über Hegel fortgesetzt. "Nach seiner Übersetzung der
"Phänomenologie des Geistes" erscheint 1946 sein großes Kommentarwerk
dazu. Es folgten Arbeiten zu Hegels Geschichtsphilosophie und Logik, aber auch
"Studien über Marx und Hegel" (1955). Auch hier werden Motive der
Existenzphilosophie in die Interpretation Hegels aufgenommen, doch ohne dass damit
das absolute Wissen anthropologisch reduziert wird. Der Weg zum Absoluten führt
durch den Menschen, endet aber nicht bei einer Vergöttlichung und
gleichzeitigen Auslöschung der Menschheit. Sartre und Merleau-Ponty, mit denen
Hyppolite befreundet war, haben von ihm deutliche Anregungen empfangen"
(B.Waldenfels, S. 299).
A.Kojève hielt von 1933 bis 1939 an der "École pratique des Hautes
Études" Vorlesungen über Hegel. Zu seinen Hörern gehörten: R.Aron,
M.Merleau-Ponty, E.Levinas [der gebürtige Litauer [1906-1995] ging 1927/28 zum
Studium zu Heidegger, Freiburg, und beschloss 1930 seine Studien in Straßburg
mit der These: "Théorie de l’intuition dans la phénomenologie de
Husserl". Dies war die erste große Arbeit, die in Frankreich über Husserl erschien.
Er hat zur Entdeckung von Husserl und Heidegger in Frankreich beigetragen,
wobei unter Heideggerschem Einfluss Kritik an der Husserlschen Theorie geübt
wird. Er übersetzte im Jahre 1931 zusammen mit Gabrielle Pfeiffer die
"Méditations Cartésiennes" von Husserl, J.-T.Desanti, E.Weil,
G.Fessard, G.Bataille, A.Breton sowie R.Queneau. Dieser gab die Vorlesungen
Kojèves 1947 unter dem Titel "Introduction à la lecture de Hegel"
heraus. Im Jahre 1930 wurde er auf seinen Wunsch hin Franzose, im Jahre 1940
mobilisiert und geriet bald in deutsche Kriegsgefangenschaft. Seine akademische
Karriere begann er im Alter von 57 Jahren und wurde nach Poitiers,
Paris-Nanterre und Paris/Sorbonne (bis 1976) berufen. Die letzten Lebensjahre
verbrachte er mit Vorträgen, u.a. für den jüdisch-christlichen Dialog. Er starb
am 25. Dezember 1995, 18 Tage vor seinem 90. Geburtstag. Im Bezug auf
Berdjajew/Levinas kann hingewiesen werden auf: J.Wahl (Hg.), Vom Nichts, vom
Sein und unserer Existenz. Versuch einer kleinen Geschichte des Existentialismus,
gefolgt von einer Diskussion der Herren N.Berdiaeff, M. de Gandillac, M.Koyré,
E.Levinas und G.Marcel, Augsburg/Basel 1954].
26) Clara Malraux geb.
Goldschmidt, Ehefrau von André Malraux (1901-1976), reiche Erbin einer
deutschen emigrierten Familie. Malraux arbeitet mit dem Vermögen seiner Ehefrau
an der Börse. Die mexikanischen Minenunternehmungen, in die er alles Vermögen
gesteckt hat, bringen nicht den gewünschten Erfolg. Das Paar ist ruiniert.
Weihnachten 1923 wird das Paar in Phnom Penh verhaftet, A.Malraux zu drei
Jahren Haft verurteilt. Clara Malraux gelingt es, nach Frankreich
zurückzukehren. Es gelingt ihr, zahlreiche große Schriftsteller zu
mobilisieren, die die Freilassung ihres Gatten erreichen. Malraux kehrt nach
Asien zurück. Während des zweiten Weltkriegs tritt er in den Widerstand ein
(1943). Im Juli 1944 verunglückt sein Auto bei Toulouse. Er ist verletzt und
wird verhaftet und ins Gefängnis Saint-Michel von Toulouse gebracht. Beim
überraschenden Abzug der Deutschen wird er befreit. Im Jahre 1945 trifft er
General de Gaulle. Er wird Staatsminister für kulturelle Angelegenheiten. Er
stirbt im Jahre 1976 im Krankenhaus Henri-Mondor von Créteil infolge einer
Lungenerkrankung.
27) Louis Martin-Chauffier
(1902-1975), zunächst Archivar der Bibliothek Mazarine, war Martin-Chauffier
danach 20 Jahre Journalist und religiöser Chronist bei der Zeitschrift
"Figaro", dann Chefredakteur von "Vu, de Lu, de Vendredi".
Im Jahre 1938 trat er in die Redaktion des "Paris-Soir" und von
"Paris-Match" ein. Er veröffentlichte in der Zwischenzeit Romane.
Während der Besetzung war er einer der Begründer des "Comité national des
Écrivains". Im Jahre 1944 wurde er von den Deutschen verhaftet und ins
Lager Bergen-Belsen deportiert. Im Jahre 1957 empfing er den "Grand prix
national des Lettres".
28) Pierre-Henri Simon
(1903-1972), wurde am 16. Januar 1903 in Saint-Fort-sur-Gironde geboren. Als
Sohn eines Notars trat er 1923 in die "École normale supérieure" ein.
Er verband sich mit Henri Guillemin, Jean Guitton und Georges Izard. Er wurde
Professor an den Lyzéen von Saint-Quentin und von Chartres. Im Jahre 1928 wurde
er auf den Lehrstuhl für französische Literatur der katholischen Universität
Lille berufen. In der Folgezeit musste er im Ausland lehren, zunächst an der
"École des Hautes Études", dann von 1949 bis 1963 an der Fakultät für
Wissenschaften von Fribourg. Im Jahre 1940 wurde er verhaftet, er verbrachte
den Krieg bei Nürnberg, dann in einem Konzentrationslager bei Lübeck.
Pierre-Henri Simon wurde am 10. November 1966 in die "Académie
française" auf den Sitz von Daniel-Rops gewählt. Am 9. November 1967 wurde
er von Jean Guitton aufgenommen. Er starb am 20. September 1972. Der erwähnte
Jean Guitton (1901-1999) wurde 1933 Doktor der Wissenschaften, anschließend Professor
in Troyes, Moulin, Lyon sowie an der Fakultät von Montpellier (1937).
Kriegsgefangener war er von Juni 1940 bis Juni 1945, Professor in Avignon,
danach an der Fakultät von Dijon und seit 1955 an der Sorbonne (Lehrstuhl für
Philosophie und Geschichte der Philosophie). Er erhielt im Jahre 1954 den
großen Literaturpreis der "Académie française". Er wurde in diese
Akademie am 8. Juni 1961 berufen und starb am 21. März 1999 in Paris. Der
erwähnte Georges Izard (1903-1973) kam nach einer religiösen Krise über den
Agnostizismus und Protestantismus zum Katholizismus. Er war Lizentiat des
Rechts und wurde 1926 zum Direktor des Kabinetts von Charles Daniélou ernannt,
wurde Unterstaatssekretär bei der Handelsmarine. 1929 heiratete er die Tochter
seines Ministers und Schwester des Kardinals Daniélou. Zusammen mit Emmanuel
Mounier gründete er die Zeitschrift "Esprit", von der er sich 1933
entfernte, um sich der "Parti Frontiste" von Gaston Bergery
anzuschließen. Er wurde am 11. Februar 1971 in die "Académie française"
gewählt auf den Sitz von Henri Massis. er starb am 20. September 1973.
29) Jean Tardieu,
französischer Dichter und Dramatiker (1903-1995).