Dekaden 2
3.
Die Weiterführung der Arbeit in Pontigny durch Desjardins Witwe und seine
Töchter
Desjardins' jüngster Sohn
starb im Juni 1940. Seine Witwe und ihre Tochter Anne, die einzige Überlebende
von vier Kindern, beschlossen nach einem gewissen Zögern (seit 1950), das
Familienerbe, d.h. das Schloss von Cerisy (Manche) zu erhalten. Den größeren Teil,
den sie in der Gesellschaft der Freunde von Pontigny im Besitz hatten, ging zur
Kirche (zur Diözese) zurück, ein Teil der Bibliothek wurde nach Royaumont
verkauft. Dieses erlaubte, mit der Wiederherstellung des Zustandes von Schloss
Cerisy zu beginnen, das lange unbewohnt war und viel unter der Besetzung durch
die deutsche Armee und die Schlacht von Bocages im Juli 1944 gelitten hatte.
Seit 1946 wird das Ensemble
von Schloss und der Nebengebäude geschützt als "eingetragenes"
Bauwerk. Vorangetrieben und unterhalten von Freunden, die das Gebäude bereits
kannten, als es noch Kloster war und den Wunsch äußerten, den Geist von
Pontigny wieder lebendig zu sehen, organisiert Anne Heurgon-Desjardins
(1899-1977)17) zuerst einige Dekaden in Royaumont (seit 1947). Als dann die
ersten Veranstaltungen terminiert sind, kommt sie dazu, im Jahre 1952 das
kulturelle Zentrum zu eröffnen, indem sie dem Schloss die gleiche Bestimmung
gibt, die ihr Vater der Abtei Pontigny gegeben hatte. Heute sind es ihre
Töchter Edith Heurgon und Catherine Peyrou, die das Kulturzentrum leiten. Auf
diese Weise ermöglichen sie die Fortsetzung dieses freien Werks von Kultur und
Denken. In dem Schloss von Cerisy fanden mehr als 400 Kolloquien statt,
darunter solche, die um wichtige Persönlichkeiten konzentriert waren wie Martin
Heidegger (1955), Arnold Toynbee (1958), Giuseppe Ungaretti (1960); Raymond
Queneau (1960), Claude Simon (1974), Alain Robbe-Grillet (1975), Francis Ponge
(1975), Roland Barthes (1977), Eugène Ionesco (1978), René Girard (1983), Yves
Bonnefoy (1983), Claude Vidée (1988), Cornelius Castoriadis (1990) ebenso wie
über solche Probleme wie "Genese und Struktur (1959), "Eine neue
Literatur" (1963), "Die Sexualität" (1965), "Die aktuellen
Wege der Kritik" (1966), "Das Jahrhundert des Kapitals" (1967),
"Der neue Roman" (1971), "Zu einer kulturellen Revolution:
Artaud, Bataille" (1972) usw. Mehr als 250 Kolloquien von Cerisy wurden
veröffentlicht.
Sind die Dekaden nur eine
laienhafte Parenthese im spirituellen Abenteuer von Pontigny geblieben? Die
Harmonie ist sehr subtil, die Kontinuität ist offensichtlich, wie es 1925
François Mauriac18) unterstreicht: "Früher gab es im Zentrum der Abtei
eine Präsenz, um die die Stille regierte, ein einzigartiges Objekt unserer
Meditationen und unserer Gebete. In Pontigny, diesem leeren Ort, scheint es,
dass alle diejenigen, die dort sind, vereinigt wären, um es neu zu erschaffen
[…]. Nichts gibt mir besser das Gefühl für Gott als die Vorstellung der
menschlichen Intelligenz".
Auch im Jahre 2002 finden
Veranstaltungen in Pontigny und Cerisy statt. In der Zeit vom 23. bis zum 31.
August 2002 trifft sich die europäische geistige Elite in Pontigny und Cerisy
zum Meinungsaustausch. Darunter ist Maurice de Gandillac,19) der zum Thema
"De Léon Brunschvicg à Jacques Derrida" referiert. Prof. Dr. de
Gandillac ist der letzte Zeuge von sieben Jahrzehnten sommerlicher Gespräche.
Er ruft die Zeit in Erinnerung, in der Bergson mit seiner Meisterschaft die
Führer der drei gegnerischen Lager (Thomismus, Neukantianismus, Soziologismus)
bedrängte, aber wo sich schon die miteinander verbundenen Triumphe der
Phänomenologie und des Existenzialismus ankündigten. Es folgten dann die Mode
des Strukturalismus, der Tod des Individuums, die Auferstehung des Subjekts und
der Hermeneutik, die Grammatologie und alle Seitenflüsse der Postmoderne.
Kostas Axelos20) erinnert
daran, dass Martin Heidegger im August 1955 in Cerisy sein Seminar zum Thema
"Was ist Philosophie?" gab. Diese Konferenz eröffnete die Décade, die
Heidegger gewidmet war, organisiert und geleitet von Jean Beaufret21) und
Kostas Axelos, die diese Konferenz übersetzten. Damals waren die aktiven
Teilnehmer: Beda Allemann,22) Maurice de Gandillac, Lucien Goldmann,23) Gabriel
Marcel24) und Paul Ricœur,25) der über die Wichtigkeit des Alten Testaments für
die Philosophie sprach. Heidegger hat "seine Philosophie" nicht
erläutert. "Es gibt keine heideggersche Philosophie", behauptete er.
Nachdem Heidegger 1955 erstmals offiziell in Frankreich war, "reiste er
noch mehrfach in die Provence; 1966, 1968 und 1969 hielt er in Le Thor im Hause
des Dichters René Char Seminare ab, zu denen ebenfalls J.Beaufret mit seinen
Schülern eingeladen war. Frucht jahrelanger Bemühungen ist Beaufrets 'Dialogue
avec Heidegger' (1973-74). Das dreibändige Werk enthält Aufsätze zur
griechischen und modernen Philosophie im Geiste Heideggers; im letzten Band
finden sich auch unveröffentlichte Arbeiten zu Husserl und Heidegger […]. Im
übrigen sind Heideggers Wirkungen auf das französische Denken verwickelt,
widersprüchlich und gewunden. Bei der älteren Generation, bei Sartre,
Merleau-Ponty, Levinas und Ricœur finden wir eine Skala von Reaktionen wie
Ausweichen, zögernde Ablehnung, gezielte Abwendung, behutsame Annäherung oder
differenzierte Aneignung – von kühlem Ignorieren, aber auch von Enthusiasmus
kaum eine Spur. Die Wirkung Heideggers geht längst über den engeren
philosophischen Rahmen hinaus" (B.Waldenfels, S. 44f.)
Bei der sommerlichen Décade
des Jahres 2002 referiert Klaus Grosse Kracht über die intellektuellen
Deutschen in Pontigny, Ernst Robert Curtius, Heinrich Mann und Bernhard
Groethuysen. Nach dem ersten Weltkrieg blieb der intellektuelle Austausch
zwischen Frankreich und Deutschland lange Zeit auf dem Nullpunkt. Paul
Desjardins war einer der ersten, der den Kontakt mit den Intellektuellen
Deutschlands aufleben ließ. Seit 1922 lud er regelmäßig Schriftsteller und
Intellektuelle von der anderen Rheinseite ein, an den Sommergesprächen von
Pontigny teilzunehmen. Besonders die literarischen Dekaden, angeregt von der
Gruppe der "Nouvelle Revue Française" bauten eine erste Brücke, bei
welchen sie durch den kulturellen Austausch zwischen Frankreich und Deutschland
begannen, sich zu etablieren. Die Gegenwart von Ernst Robert Curtius, Heinrich
Mann und Bernhard Groethuysen an der Seite von Paul Desjardins, André Gide und
Charles Du Bos machten Pontigny zum Ort des intellektuellen Austauschs, wo sich
die unterschiedlichen Visionen einer europäischen Kultur begegneten und
gegenseitig bereicherten. Die Dekaden von Pontigny begründeten so einen Ort der
wesentlichen Erinnerung in der kulturellen französisch-deutschen Geschichte des
20. Jahrhunderts.
Bei der Tagung des Jahres
2002 erinnert Claire Paulhan an das Thema "Pontigny in den persönlichen
Tagebüchern und Romanen". Die Beiträge wurden ja nicht offiziell
stenographiert oder aufgezeichnet. Es scheint, dass die Regel der
Nicht-Veröffentlichung implizit, aber genau von Paul Desjardins beabsichtigt
war. Dies gab allen eine außerordentliche Freiheit des Geistes und des Wortes.
Was allgemeine Archive bezüglich der Vorbereitungen aller Zusammenkünfte
anbelangt, so wurden sie zum Teil von der Gestapo konfisziert, die sich nicht
ohne Grund in Pontigny aufhielt, einer wichtigen Plattform der antinazistischen
Aktivisten. Dennoch haben wir heute die Möglichkeit, uns darüber zu
informieren, wie sich die zehn Tage im Konklave einer "Laienabtei"
vollzogen, wie sich die Gespräche gemeinsam in der Bibliothek entfalteten, die
Privatunterhaltungen unter dem Laubengang und die unerwarteten Spiele der
Gemeinschaft, indem man die persönlichen Tagebücher liest von André Gide,
Jacques Copeau, von Charles du Bos, Francois Mauriac, Roger Martin du Gard, die
Erinnerungen von Nikolai Berdjajew, André Maurois, Clara Malraux26) und anderer
großer Zeugen, die Artikel von Louis Martin-Chauffier,27) Pierre-Henri Simon28)
und von vielen anderen ebenso wie die inzwischen veröffentlichen zahlreichen
Korrespondenzen. "Indem ich das Puzzle der verstreuten Zeugnisse
rekonstruiere, werde ich versuchen, ein lebendiges Bild dieser ‚Décades de
Pontigny’ zu geben, die der junge Jean Tardieu29) wie eine ‚université
raffinée’ betrachtete" (so Claire Paulhan in ihrer Zusammenfassung des
Vortrages der Dekade von 2002).
Schluss
In der Einleitung zu den
Dekaden von 2002 heißt es programmatisch unter dem Thema "Argument":
Pontigny – aus laienhafter Inspiration wollte Paul Desjardins dort "die
coenobitische, [d.h. klösterliche] Methode auf die Stärkung eines Geistes der
reinen Vernunft anwenden". Wie? Durch die Vereinigung in "der Stille
der Felder" einer "kleinen Gemeinschaft von gegenseitigem
Vertrauen", zusammengesetzt aus illustren Persönlichkeiten
(Schriftstellern, Philosophen, Wissenschaftlern), aber auch aus in die Kultur
verliebten Laien und Studenten, angezogen durch die Suche nach einer modernen
Demokratie, gekommen aus Europa und im Gespräch über ein bestimmtes Thema
(Menschenrechte, Erziehung und Arbeit, Literatur und religiöse Probleme) in
jeder Dekade.
Cerisy? – Darum besorgt, hier
die Tradition von Pontigny weiterzuführen, wünschte Anne Heurgon – Desjardins,
um eine vertiefte Arbeit und Freundesbande zu begünstigen, in einem ruhigen
Rahmen zu empfangen: Künstler, Suchende, Schriftsteller, aber auch Lehrende,
Studenten - gekommen aus der ganzen Welt und nicht weniger eine breite
Öffentlichkeit, angezogen von der Qualität des Austauschs und "dem Geiste
des Ortes".
Die Themen? Sie sind
abwechslungsreich, ins Gleichgewicht bringend Tradition und Moderne, Künste und
Wissenschaften, Studien von Gegenwartsautoren (in ihrer Anwesenheit) und
allgemeine Themen.
Also: von Pontigny nach
Cerisy, vom Anfang zum Ende des Jahrhunderts – es scheint, dass der
intellektuelle Gemeinschaftssinn einer Entwicklung gefolgt ist. Welches sind
die gemeinsamen Punkte, die Unterschiede? Was kann man von den Anpassungen an
die verschiedenen Epochen sagen, von der örtlichen Verankerung, von den
ausgewählten Themen, von den zurückgehaltenen Methoden, von den miteinander
verbundenen Gesprächspartnern? Aber auch zur Zeit von den neuen Informationstechnologien
und von einer zunehmenden Zersplitterung des intellektuellen Lebens, welche
Veränderungen sind möglich?
Diese Fragen der Veranstalter
der diesjährigen Dekaden von Pontigny/Cerisy verdeutlichen, dass – wie zu der
Zeit von Paul Desjardins – auch für die Zukunft wichtige und interessante
Themenstellungen und aufgeschlossene Gesprächspartner der geistigen Elite aus
Europa zu erwarten sind.