Der Horneburger Busch, mein
Jugendparadies
Wilhelm Fleitmann, Gladbeck
Uns Horneburger Jungen war
der Busch, der sich gleich hinter dem Horneburger Schloß in ziemlicher Breite
bis tief nach Meckinghoven und Hagem hinein ausdehnte, das Jugendparadies, und
wenn damals der Lehrer in der Dorfschule die Schönheiten des biblischen
Paradieses schilderte, wenn er von den Bäumen des Paradieses sprach, von seinen
Blumen und Früchten, von seinen Tieren und Bächlein, dann dachte ich jedesmal
an den Busch: denn schöner als dieser konnte das Paradies gewiß nicht gewesen
sein. Nicht nur an bestimmten Tagen, und nicht bloß zu bestimmten Stunden stand
uns das Paradies zur Verfügung, nein, immer waren seine Tore offen. Kein Zaun,
kein Stacheldraht umgab den Busch, und wenn wir mit zerrissenen Hosen und
Jacken nach Hause kamen, dann trug kein künstliches Hindernis die Schuld.
Sobald die Freizeit winkte, – für die Jungen der damaligen Zeit war im Elternhause,
im Garten und auf dem Felde immer Arbeit –, dann zogen wir zum Dorf hinaus in
den Busch. Auf dem schmalen Pfade, der an der alten Freiheit vorbeiführte,
hatten wir ihn bald erreicht, und ob es Frühling war oder Sommer, Herbst oder
Winter, wir fanden immer den Weg zu ihm hin. Wenn wir dann singend einher
zogen, den Papierhut auf dem Kopfe, den hölzernen Säbel an der Seite, dann
schaute der alte Pastor Meyer von dem Fenster seines Studierzimmers – die
damalige Pastorat lag dicht an der Straße – lächelnd auf uns herab, und mehr
als einmal hat er uns Aepfel, Pflaumen oder Walnüsse zugeworfen.
Weckte der junge Lenz die
ersten Blümchen: das Schneeglöckchen – Nakenäsken nannte es der Volksmund –,
die Schlüsselblume, das Veilchen, dann wußten wir, daß die Frühlingsboten
erschienen waren, und wir begrüßten sie mit jubelnder Freude. Der Busch war ein
Blumengarten geworden, und wir banden Sträuße für die Mutter daheim und die
liebe Gottesmutter im stillen Kirchlein. Gar manches Blümlein haben wir sorgsam
mit allen Würzelchen aus dem Waldboden gehoben und es behutsam heimgetragen in
den Hausgarten, wo es an der Hecke oder im Schatten des Birnbaumes unter
liebevoller Pflege der Schwester weiterwuchs. Im elterlichen Hausgarten stand
lange Jahre ein Kirschbaum, den ich als Wildling aus dem Busch mitgenommen und
der dann vom Bruder Franz unter Anleitung von Wegmanns Fritz verdelt war. Auch
in anderen Gärten fanden sich Kinder des Busches wieder.
Stieg der Saft in den Weiden
empor, wurden sie „sapp“, dann fertigten wir „Huppen“ und „Flautepiepen“ unter
dem alten Vers:
„Mien
Vader wull ’n olt Rad bislon,
Wu
viöll Niäggel söll’n dotau gohn?“
Nannte die Antwort die Zahl
„fieftig“, dann wurde mit dem Messerheft fünfzigmal auf die Weidenrute
geklopft, nachdem sie mit Speichel angefeuchtet und während des Klopfens
beständig gedreht war. Gegen Abend zogen wir heim mit Flöten, Pfeifen, Waldhorn
und Pauken – die letzteren waren alte Töpfe –, und der Einmarsch lockte nicht
bloß den Pastor und seinen „Vikarjes“ ans Fenster, sondern auch Pastors
Libbeth, Westhoffs Billa, Stratmanns Anktrin, Timplers Engel, die uns Jungen
sonst nicht so hold waren, schauten hinter der Fenstergardine hervor, und alle
hatten an dem Einzuge ihre helle Freude.
Wenn man an der alten
Freiheit den Busch betrat, dann lag gleich linker Hand ein Hügel,
wahrscheinlich ein Ueberrest der alten Burgbefestigungen, und darauf standen
Buchen, alte Stämme mit breiten Kronen; dieser sonnendurchwärmte Hügel war der
Ort, wo wir nach Herzenslust arbeiten konnten. Dorthin brachten wir allerlei
Handwerkszeug: halbe und dreiviertel Teller, Blechgeräte mit Beulen,
ungefährlich gewordene Küchenmesser mit abgebrochener Klinge, Löffel ohne
Stiele, Dosen, Topfdeckel und was der Kinderherrlichkeiten mehr sind. Kein
Gegenstand der Haushaltung, den die Mutter in den einstweiligen oder dauernden
Ruhestand versetzte, konnte so schlecht sein, daß er bei uns nicht irgendeine
Bestimmung gefunden hätte. Aus angefeuchtetem Lehm machten wir „Teig“, wie wir
es der Mutter abgeschaut hatten, und formten dann mit Hilfe von Blumentöpfen
und Pfannen die „wohlschmeckendsten“ Puddings und schön verzierte Torten. Waren
wir der Kuchenbäckerei leid, dann wurden wir Architekten und Baumeister. Wir
schufen Städte mit schnurgeraden Straßen, Burgen und Schlösser mit
unterirdischen Verließen – sie sollten ja auch in dem vor uns liegenden
Schlosse sein –, wir bauten Kirchen und Dome, und nachdem wir in der Schule die
Landkarte kennen und verstehen gelernt hatten, da war es der schaffenden
kindlichen Phantasie ein Leichtes, Länder und Erdteile entstehen zu lassen, mit
Bergen und Tälern, mit Strömen und Seen. Und wirkliches Wasser floß darin, wir
holten es mit recht undichten Eimern und Töpfen aus dem vorbeifließenden Bache.
Hei, wie wir dabei springen mußten. Und wie unser Anzug dann aussah! Putzten
wir doch selbstverständlich unsere lehmigen und nassen Hände an Hose und Jacke
ab. Einige von uns Jungens wurden sogar Schiffbauer, indem wir aus einem dürren
Aste einen Kahn schnitzten, Mast und Papiersegel daraufsetzten, und schon fuhr
der Segler auf dem Bächlein, das das Weltmeer bedeutete, nach Amerika aus. Die
Arbeiten hatten unsere Wangen gerötet, und wenn der Hunger sich meldete, bot
uns der Busch in jeder Jahreszeit die köstlichsten Gaben wie Erdbeeren, Brombeeren,
Himbeeren in reicher Fülle. Kam die Zeit der Kirschen, dann gab uns der Busch soviel wir nur wünschten.
Zwar waren es zumeist Vogelkirschen, aber an einer einsamen Stelle stand doch
auch ein veredelter Kirschbaum, der trug dicke schwarze Früchte, und um seinen
Standort wußten nur drei aus unseren Reihen, und die hüteten das Geheimnis.
Im Herbst holten wir
Bucheckern und Haselnüsse, die Taschen voll zum Knacken, die Beutel voll für
die langen Winterabende. Wir teilten die Nüsse mit den vielen Eichhörnchen, zum
Danke dafür, daß sie uns das ganze Jahr hindurch mit ihrem munteren Wesen,
durch ihre gewagten Sprünge von Ast zu Ast, von Baum zu Baum, erfreut hatten;
denn neben Blumen und Früchten war insbesondere die Tierwelt unsere Freude. Oft
unterbrachen wir unser Spiel und legten uns unter die schattenspendenden
Buchenkronen, um dem Konzert der gefiederten Sänger zu lauschen. Wir wußten, wo
sie wohnten, kannten ihre Nester und ihre Höhlen, wir zählten die Eier in den
Nestern, schlichen uns leise heran, wenn die Vogelmutter brütend auf dem Neste
saß oder wenn die Alten die Jungen fütterten; aber gestört haben wir sie
niemals.
Kam der Winter, dann wurde es
einsam im Busch. Aber wer da glauben wollte, wir Jungen hätten den Wald darob
gemieden und wären daheim hinter „Moders Pott“ geblieben, der kannte unsere
frischen Dorfjungen schlecht. Das Fangen- und Versteckenspiel, „Räuber und
Schanditz“ wollten niemals besser gelingen als im Winter. Wir suchten den
tiefsten Schnee auf, und da, wo er so hoch zusammengeweht war, daß wir bis an
die Brust hineinsanken und die Holzschuhe wieder ausgraben mußten, da schuf er
die größte Winterfreude. Auf der Wiese, die zwischen Schloß und Busch lag, gab
es eine glatte Eisbahn, und die Abhänge hinunter rutschten wir einfach auf dem
Hosenboden. Wie schmeckte nach der Rückkehr das einfache Butterbrot! Und erst
der knusperige Kartoffelpfannkuchen mit seinen dicken Speckscheiben! Die Mutter
konnte trotz ihrer zwei Pfannen auf dem Herde kaum soviel backen, wie vier
hungrige Mäuler vertilgten. Häufig brachten wir der Mutter ein Bündel trockenes
Holz mit, das wir im Walde aufgelesen hatten. Die Mutter nahm das Holz gerne
entgegen; Kohlen, die man damals noch von Witten a. d. Ruhr holen mußte, waren
ein rarer Artikel.
Noch in anderer Weise half
uns der Busch den elterlichen Haushalt unterstützen. Er lieferte uns die
Haselnußgerten und die Weiden, die zum Flechten von Kartoffelkörben notwendig
waren. Die Anfertigung hatten wir bei Adolf Peveling gelernt, der Tag für Tag
vor seiner elterlichen Wohnung saß und Korb um Korb flocht, und der für seine
Erzeugnisse auf den Wochenmärkten in Recklinghausen und Castrop lohnenden
Absatz fand. Wir fertigten die Körbe nur für den elterlichen Haushalt,
verkaufen ließen sich unsere Lehrlingsarbeiten nicht.
Einmal im Jahre bekam der
Busch hohen Besuch. Das war am dritten Sonntag nach Pfingsten, wenn die große
Prozession durch den Busch zog. Da wurde es buchstäblich wahr, was das Lied
kündet: „Der liebe Herrgott geht durch den Wald“. Die Vöglein schwiegen, wenn
die Menschen des Heilands Lob sangen, wenn am Kreuz, am Ostausgange des Waldes,
der Segen mit dem Allerheiligsten gegeben wurde, die andächtige Menge in die
Knie sank und der helle Ton der Schelle die Stille unterbrach.
Jahre kamen, Jahre gingen.
Ich mußte das Heimatdorf und seinen Busch verlassen; aber wenn mich die Ferien
in das Elternhaus zurückführten, dann besuchte ich den Wald und auf den
bekannten trauten Plätzen lebte die Erinnerung an die Jugend wieder auf. Ich
erzählte meinem Jungen vom alten Busch und seinen Freuden. Er wollte ihn gerne
sehen. An einem sonnigen Ferientage im August des vergangenen Jahres machten
wir ihm unseren Besuch und durchlebten miteinander des Vaters Jugend. Freilich,
ein beträchtlicher Teil des Waldes war inzwischen gerodet, manche Stellen
kannte ich kaum wieder. Ich wollte meinem Jungen auch den Kirschbaum zeigen,
dessen Früchte uns so oft gelabt hatten; aber auch der war der Axt zum Opfer
gefallen. Daß die Gegenwart so wenig glimpflich mit der Vergangenheit umgegangen
war, tat mir wehe, und nachdem ich den Spielkameraden, von denen die meisten
längst in kühler Erde ruhten, ein stilles Gedenken gewidmet hatte, nahmen wir
Abschied vom Busch, nicht ohne ihm als Abschiedsgruß das Dichterwort zugerufen
zu haben:
„Schirm dich Gott, du deutscher Wald!“
Quelle
Wilhelm Fleitmann, Der
Horneburger Busch, mein Jugendparadies, in: Vestischer Kalender 10 (1932),
110-112.
Erläuterungen
o
Schneeglöckchen
wird im Westfälischen mit „Nakenäsken“ wiedergegeben. Dieser Ausdruck ist im Niederdeutschen
minder anstößig als im Hochdeutschen. Vgl. Friedrich Woeste, Wörterbuch der
westfälischen Mundart, Norden u. Neumünster 1930; neu bearbeitet u. hg. v.
Erich Nörrenberg, Vaduz 1999, 12.
o
Eine Huppe
(westfälisch) ist ein Kinderpfeifchen, aus einem Roggenhalme geschnitten. Vgl.
F.Woeste, Wörterbuch der westfälischen Mundart, Vaduz 1999, 109.
o
Das Fangen- und
Versteckspiel „Räuber und Schanditz“ ist das Spiel „Räuber und Gendarm“.
o
„Der liebe
Herrgott geht durch den Wald“, Gedicht von Leberecht Blücher Dreves
(1849). Überschrift: Waldandacht.
Gedichtanfang: „Frühmorgens, wenn die Hähne kräh’n“. Dieses Gedicht wurde 1910
von Eduard Walter vertont: „Kleine Erzählungen für die junge Welt“.
o
„Schirm dich
Gott, du deutscher Wald“ stammt von Joseph von Eichendorff (1810). Das Gedicht
wurde 1840 von Felix Mendelssohn Bartholdy vertont. Vgl. Joseph von
Eichendorff, Gedichte, hg. v. Peter Horst Neumann in Zusammenarbeit mit Andreas
Lorenczuk, Stuttgart 1997, 107f; Das große Buch der deutschen Volkslieder, hg.
v. B.Snowdon, Hamburg 2009, 192f. Überschrift: „Der Jäger Abschied“. Gedichtanfang:
„Wer hat dich, du schöner Wald, / Aufgebaut so hoch da droben?“ Gedichtende:
„Schirm dich Gott, du schöner Wald!“
Waldandacht
Leberecht
Blücher Dreves
Frühmorgens, wenn die Hähne kräh’n,
Eh’
noch der Wachtel Ruf erschallt,
Eh’
wärmer all’ die Lüfte weh’n,
Vom
Jagdhornruf das Echo hallt,
Dann
gehet leise, nach seiner Weise,
Der
liebe Herrgott durch den Wald.
Die
Quelle, die ihn kommen hört,
Hält
ihr Gemurmel auf sogleich,
Auf
daß sie nicht die Andacht stört,
So
Groß und Klein im Waldbereich,
Die
Bäume denken: „Nun laßt uns senken
Vor’m
lieben Herrgott das Gezweig!“
Die
Blümlein, wenn sie aufgewacht,
Sie
ahnen auch den Herrn alsbald.
Und
schütteln rasch den Schlaf der Nacht
Sich
aus den Augen mit Gewalt
Und
flüstern leise, ringsum im Kreise:
„Der
liebe Gott geht durch den Wald!“
(1849)