Der Gedanke der Anthropodizee 4

 

 

Exkurs II: "Die Tragödie in Gott" in der Interpretation J.Moltmanns und der Kritik S.Bulgakows

 

N.Berdjajew hat sich mit seiner philosophischen Aussage einer "Tragödie in Gott" manche Kritik und manchen – vor allem theologischen – Widerspruch zugezogen. Exemplarisch ziehen wir die Auseinandersetzung Jürgen Moltmanns mit Berdjajew heran (38). Moltmann klassifiziert zu Recht: "Berdjajew war kein Fachtheologe und kein Fachphilosoph. Man hat ihn darum gern als 'Denker' apostrophiert". Ähnlich sah es auch Karl Pfleger, als er schrieb: "Er ist kein Theologe und Dogmatiker. Er ist einfach ein tief religiöser, ein wahrhaft frommer Mensch, wie sein in die katholische Kirche eingetretener Landsmann, der Schriftsteller Leo Kobilinski, auf Grund einer langen Bekanntschaft mit ihm mir sagte; ein frommer Christ, der aber die Gabe und den Beruf in sich spürt, über das Christentum sich seine eigenen Gedanken zu machen" (39). "Seine Originalität macht in der Tat seine Einordnung schwer. Wir nehmen hier die Grundgedanken seiner Geschichtsphilosophie auf, die man eine Theosophie des Menschheitsgeschicks nennen kann" (40). Moltmann interpretiert die Geschichte der Menschheit von dem durch Berdjajew vehement vertretenen Freiheitsgedanken und folgert, dass aufgrund der dem Menschen verliehenen Freiheit die Menschheitsgeschichte eine Tragödie sei. "Weil Gott selbst diese Freiheit des Menschen will, darum ist die Tragödie der menschlichen Geschichte auch seine eigene Tragödie: Gott will die Freiheit seines Ebenbildes auf Erden und kann sie doch nicht erzwingen, sondern nur durch das Leiden seiner ewigen Liebe schaffen und erhalten. Die menschliche Freiheitsgeschichte ist darum nur die erfahrbare und erkennbare Seite der Passionsgeschichte Gottes. Nur deshalb steht das Leiden Gottes im Zentrum, weil Gott Freiheit will" (41).

 

Moltmann nimmt im Folgenden den zentralen Gedanken Berdjajews auf: "Die Sehnsucht nach dem Geliebten und in Freiheit Liebenden und – als Erwiderung jener Sehnsucht – die Geburt des Menschen in Gott (42). Moltmann interpretiert diesen Zusammenhang: "Diese Sehnsucht Gottes ist eine Bewegung in Gott, die Gott aus sich selbst herausführt und zu seinem 'Anderen', dem Menschen bringt. Die Tragödie der menschlichen Freiheit ist darum zugleich die Passionsgeschichte jener Sehnsucht Gottes nach dem Menschen. Berdjajew nennt darum die wahre Tragödie in der menschlichen Geschichte die Tragödie Gottes, der Freiheit will und sie nur durch das Leiden seiner Liebe schaffen und erhalten kann. Nur die freie Offenbarung des Menschen und sein freies Schaffen sind Gott erwünscht. Nur sie erwidert die Sehnsucht Gottes nach dem Menschen" (43).

J.Moltmann deutet Berdjajews Intentionen mit weiteren Zitaten aus dem Werk des russischen Denkers in dem Sinne, dass Berdjajew im Grund der Welt, im Schoße des göttlichen Lebens einen theogonischen Prozess (im Sinne Schellings) sieht: "Das göttliche Leben selbst ist in einem tiefsten, geheimsten Sinne Geschichte, ist ein geschichtliches Drama, ein geschichtliches Mysterienspiel" (44). An dieser Stelle wendet Moltmann sich Berdjajews Monismus-Kritik zu.
1. Der abstrakte Monismus sei nicht imstande, den Ursprung der vielfältigen Welt zu erklären.
2. Er müsse dem Akosmismus verfallen, weil er nur das Sein einer unbewegten Gottheit, nicht aber das Sein der vielfältigen Welt anerkennen kann.

 

Moltmanns Interpretation nimmt Berdjajews Anliegen insofern auf, als er als trinitarisch orientierter Theologe hier Berdjajews Argumentation anführt, dass zum allerfundamentalsten Mysterium des Christentums "zur christlichen Lehre von der Dreifaltigkeit Gottes, zur christlichen Lehre von Christus als dem Zentrum jenes Gottheitslebens, zum christlichen Mysterium von Golgatha" (S. 60) gehöre, die Bewegtheit in Gott anzuerkennen. Man könne nicht – so Berdjajew nach Moltmann – Gott zugleich als unbeweglich und bewegt, als leidensunfähig und leidend, als jenseits der Geschichte und geschichtlich verstehen. Mit der Trinität Gottes sei auch die Bewegung in der göttlichen Natur gegeben. "Denn das Geheimnis des Christentums ist nach Berdjajew die Erkenntnis der Dreieinigkeit Gottes, die Erkenntnis der damit gesetzten Bewegung in der göttlichen Natur und die Erkenntnis der daraus entspringenden Passionsgeschichte Gottes. Christlicher Glaube ist die Erfahrung der daraus entspringenden grenzenlosen Freiheit" (45).

 

"Die Größe der Geschichtsmetaphysik Berdjajews liegt darin, dass er durch die Annahme einer 'Geschichte in Gott' die himmlische und die irdische Geschichte in die geschichtliche Wechselbeziehung von göttlicher Liebe und menschlicher Freiheit setzen kann: Die menschliche Geschichte ist wesentlich Freiheitsgeschichte. Als Freiheitsgeschichte ist sie zugleich die Passionsgeschichte Gottes […]. Die irdische Freiheitsgeschichte wird als ein Moment der himmlischen Geschichte erfasst, denn die Tragödie der menschlichen Freiheit ist die Leidensgeschichte der göttlichen Liebe. Berdjajew stellt die Theologie der Geschichte als Theologie der Freiheit dar und umgekehrt. Seine Kreuzestheologie ist die Antwort auf das Theodizeeproblem, das aus der Theologie der Geschichte und der Freiheit entsteht" (46). "Das Böse und das Leiden existieren in der Welt, weil die Freiheit existiert; die Freiheit existiert ohne Ursache, sie ist eine Grenze. Und Gott selbst leidet, Gott wird gekreuzigt, weil die Freiheit existiert. Die göttliche Liebe und das göttliche Opfer sind Gottes Antwort auf das Mysterium der Freiheit, das auch am Ursprung des Bösen und des Leidens steht. Auch die göttliche Liebe und das göttliche Opfer sind Freiheit" (47).

 

Sergej Bulgakow hat in seiner Studie zur "Kosmodizee" zum Stichwort der "Tragödie in Gott" gegen Berdjajew Stellung genommen, ohne ihn namentlich zu erwähnen: "Es ist unfromm und ungereimt, von einer 'Tragödie in Gott' zu sprechen, welche durch die Logik ihrer Entwicklung, durch ein gewisses 'göttliches Fatum' mit Notwendigkeit zum Weltprozess hinführt. Die Schöpfung ist die Freiheit von allem Warum und Wie, die freiwillig von Gott angenommene Kreuzesfreude der Weltschöpfung. Die Tragödie ist verbunden mit einem Geweihtsein, mit einer unfreien, zwangsmäßigen, wenn auch höheren Notwendigkeit. Gott aber steht es frei, sich in den tragischen Prozess der Weltgeschichte einzuführen; indem er in sich und für sich unabhängig von ihm bleibt; darum ist im Absoluten kein Platz für die Tragödie, welche in dem Widerstreit der zersplitterten Kräfte des relativen Seins wurzelt. darum ist die Schöpfung auch ein Akt der unermesslichen Demut des Absoluten, welches seiner Aktualität entkleidet wird: die Liebe-Demut, diese äußerste und universale Tugend des Christentums, ist auch das ontologische Fundament der Schöpfung. Indem das Absolute in sich der Welt mit ihrer Relativität Platz gibt, demütigt es sich in seiner Liebe vor der Kreatur, – wahrlich unerforschlich sind die Tiefen der göttlichen Liebe-Demut" (48).

In ähnlicher Weise wird ein theogonischer Prozess im Kontext orthodoxen Denkens von Starez Siluan abgelehnt, der sagt: "Gott ist völlig Leben, ganz und gar Liebe, Licht, in dem es keine Finsternis gibt, das heißt keinen Zerfall, kein Sterben, keine Unkenntnis, keine Finsternis unüberwundener Unvollkommenheiten oder Widersprüche. Gottes lebendige Bewegungsfülle ist zugleich eine unendliche und anfangslose Fülle des Seins, die jeden theogonischen Prozeß ausschließt. Gott lebt die ganze Tragödie der Welt mit, doch heißt das nicht, dass sich in Gott selbst, im Schoß der Gottheit, eine Tragödie abspielt, dass als Folge seiner Unvollkommenheit und Finsternis, unüberwindbar in ihm selbst, ein Kampf vor sich geht" (49); "[…] in der göttlichen Welt ist die Menschwerdung nicht die Vollendung eines theogonischen Prozesses, das heißt, Gott selbst benötigt sie nicht zur Vollkommenheit seines Seins. Nein, in Gott schließt die Vollkommenheit jeden Kampf und jede innergöttliche Tragödie aus. Gott ist nicht 'jenseits von Gut und Böse', denn er ist Licht, in dem es keine Finsternis gibt" (50).

 

Exkurs III: Das Leiden in Gott nach Sri Aurobindo

 

In der theologisch-philosophischen Diskussion der letzten Jahre hat die Frage nach Gott, der das Leid der Menschen mitträgt und somit der "leidende Gott" geworden ist, verstärkten Raum eingenommen. Hatte dies vor über zwei Jahrzehnten schon Jürgen Moltmann thematisiert (51), hatte Hans Jonas in seinen "Gedanken über Gott" den Gottesbegriff nach Auschwitz in Frage gestellt (52), so war inzwischen auch die Frage nach dem allmächtigen Gott zu einer offenen Frage geworden (53). Dieses Thema scheint nach wie vor ein absolut unerledigtes zu sein und wird es wohl auch in Zukunft bleiben, wenn wir einen Blick in die theologisch-philosophische Literatur werfen (54). So wichtig es auch wäre, uns von einigen der genannten Autoren in unserer Fragestellung eine hilfreiche Antwort geben zu lassen, so ist es auch ebenso sachgemäß – wenn auch ungewöhnlich – dazu einmal eine Stimme aus den Weltreligionen zu hören, die in der üblichen Fachliteratur kaum zu vernehmen ist.

 

Der neohinduistische Philosoph und Denker Sri Aurobindo (1872-1950) hat in seinem mehrbändigen Werk "Das göttliche Leben" ebenfalls die Frage nach dem Zusammenhang von Gott und dem Leid gestellt und gibt uns aus dem Umkreis seiner Religion Antworten, die bemerkenswerte Konvergenzen zum bisher Vernommenen aufweisen und damit einer christlichen Interpretation vom "leidenden Gott", der die Sünde der Welt trägt, erstaunlich nahe kommen (55).

 

Ohne an dieser Stelle die komplexen Voraussetzungen hinduistischen Seins-, Welt- und Gottesverständnisses darstellen zu können, soll der Exkurs nur einige Hinweise darauf geben, wie Sri Aurobindo in seinem Kulturkreis und in seiner Wahrnehmung der Frage nachgeht, wie Gott, der die Seins-Seligkeit des Menschen will und ist, dennoch Leid zulässt, ja im Leiden selber anwesend ist.

Aurobindo stellt zunächst die Frage: "Wenn alles saccidananda [Seins-Seligkeit] ist, wie können Schmerz und Leid überhaupt existieren? Dieses wirkliche Problem wird oft noch weiter kompliziert durch eine falsche Einstellung, die von der Idee eines persönlichen außerkosmischen Gottes ausgeht [hiergegen wandte sich auch Hegel, um die Welt nicht dem Atheismus zu überlassen], und durch eine Teilfrage, die ethische Schwierigkeit. Das Argument lautet dann etwa so: saccidananda ist Gott, ein bewusstes Wesen, der Urheber des Daseins. Wie kann dann Gott eine Welt erschaffen haben, in der Er Seinen Geschöpfen Leiden auferlegt, den Schmerz billigt und das Böse zulässt? Wenn Gott der All-Gute ist, wer hat dann den Schmerz und das Böse erschaffen?" (56). Wenig später gibt er selbst die Antwort: "In Wahrheit entsteht diese hier so krass hervorgehobene Schwierigkeit nur, wenn wir die Existenz eines außer-kosmischen persönlichen Gottes annehmen, der nicht Selbst auch das Universum ist, eines Gottes, der das Gute und Böse, Schmerz und Leiden, für Seine Kreaturen geschaffen hat, Selbst darüber steht und davon nicht betroffen wird, der über einer leidenden, ringenden Welt wacht, sie regiert und Seinen Willen an ihr vollzieht oder, wenn Er dabei nicht Seinen Willen durchführt, erlaubt, dass die Welt durch ein unerbittliches Gesetz gehetzt wird, ohne dass sie bei Ihm Hilfe, höchstens ungenügende Hilfe finden kann, – eines Gottes, der eben nicht Gott, nicht all-mächtig, nicht all-gut und nicht all-liebend ist. Es gibt keine Theorie von einem außer-kosmischen, moralischen Gott, mit der das Böse und das Leiden – die Erschaffung des Bösen und des Leidens – erklärt werden kann, man müsste denn zu einer unbefriedigenden Ausflucht greifen, die der aufgeworfenen Frage ausweicht, statt sie zu beantworten, oder einen direkten oder indirekten Manichäismus vertreten, der praktisch die Gottheit dadurch annulliert, dass er ihre Wege zu rechtfertigen oder ihre Werke zu entschuldigen sucht. Ein solcher Gott ist aber nicht das vedantische saccidananda" (57).

 

Sri Aurobindo stellt hier also mit Schärfe die gleichen Fragen, die etwa im Westen Philosophen oder Theologen stellen, die an der Beantwortung der Frage "Wie lassen sich Gott und das Leid zusammenschauen?" interessiert sind. Der indische Autor gibt die verblüffende, aber im hinduistischen Kontext einsichtige Antwort: "Alles was ist, ist Er. Wenn also das Böse und das Leiden existieren, ist Er es, der das Böse und das Leiden in der Kreatur trägt, in der Er Sich Selbst verkörpert hat. So ändert sich das Problem vollständig. Die Frage ist nicht mehr, wie Gott dazu kam, für Seine Geschöpfe Leiden und Böses zu erschaffen, das Er Selbst nicht auf Sich zu nehmen fähig, wogegen Er also immun ist, die Frage ist vielmehr: wie die einzige und unendliche Sein-Bewusstsein-Seligkeit dazu kam, in sich eindringen zu lassen, was nicht Seligkeit ist, sondern dessen unmittelbare Verneinung zu sein scheint" (58).

 

Sri Aurobindo unterstreicht mit seiner Sicht, dass mit dieser Interpretation die eine Hälfte der ethischen Schwierigkeiten gelöst ist. Die Lösung liegt also in der von ihm gegebenen Antwort. "Wenn Ich mir aber selbst Leid zufüge, Ich, der Ich das einzige Sein bin, ist das eine ganz andere Sache" (a.a.O., S. 115). Dies bedeutet also hier: Gott fügt sich selber Leid zu und trägt es als das ganze und umfassende Sein in und mit seinen Geschöpfen.

 

Sri Aurobindo beantwortet mit seinen Darlegungen auch noch eine weitere, häufig gestellte Frage danach, wieso wir oft an Vorgänge in der Außenwelt, in der Natur, im Kosmos die Frage nach der in ihnen von uns vermuteten oder auch gewünschten inhärenten Gerechtigkeit richten. Hierauf bekommen wir die Antwort, die uns einsichtig machen kann, dass die materielle Natur nicht ethisch ist. "Das Gesetz, das sie regiert, ist eine Koordinierung fester Gewohnheiten, die Gut und Böse nicht beachten, nur Kraft, die erschafft, Kraft, die ordnet und erhält, Kraft, die unparteiisch und unethisch stört und zerstört aufgrund eines geheimen Willens in ihr, im Einklang mit der stummen Befriedigung dieses Willens in seinen Selbst-Gestaltungen und Selbst-Zerstörungen. Auch die animalische und vitale Natur ist unethisch, obwohl sie in ihrer fortschreitenden Entwicklung das Rohmaterial hervorbringt, aus dem das höhere Tierwesen den ethischen Impuls entwickelt. Wir machen dem Tiger so wenig Vorwürfe, weil er seine Beute zerreißt und verschlingt, wie wir den Sturm tadeln, weil er zerstört oder das Feuer, weil es quält und tötet" (59).

 

So lässt sich Aurobindos Botschaft im Kontext des oben Ausgeführten auch für Christen besser verstehen und akzeptieren, wenn er unterstreicht: "Wenn Gott sich inkarniert, nimmt er die Bürde der Menschheit auf sich, um sie aufzuheben. Er wird zum Menschen, um der Menschheit zu zeigen, wie sie göttliches Wesen werden kann." Dies aber kann nach seiner Ansicht nur geschehen, wenn der Avatar die göttliche Gegenwart in seinem Inneren besitzt und sich der hinter ihm wirkenden göttlichen Kraft bewusst ist.

 

Aurobindos Interpret Satprem schreibt: "Alles ist da, man braucht keine Entfernungen zu überwinden, nichts durch Gebet zu erhoffen, nicht zu den leeren Räumen des Jenseits zu rufen, um die verschleierte Gottheit hinter den Wolken hervorzulocken, es bedarf keiner Intensität der Konzentration noch langer Jahre noch großer Anstrengungen und keiner eifrigen Wiederholungen, um zu versuchen, eine taube Macht zu bewegen – sie ist da, die unmittelbare Antwort, die tatsächliche Erfüllung, das lebendige Zeichen, die lebendige Demonstration. Es genügt ein einfacher Ruf. Es genügt ein kleiner Schrei der reinen Wahrhaftigkeit. Wahrhaftig, wir suchen gar nicht, wir werden gesucht; wir rufen nicht, wir werden gerufen. Und wir tappen nur solange herum, als wir alles selbst machen wollen. Es gibt nichts zu tun! Alles muss gelassen werden, auch die neue Welt muss durchgelassen werden, muss ihre Flüsse fließen lassen und ihre unerwarteten Wege unter unseren Schritten entfalten. Eine kleine Sekunde der Hingabe, und es tritt ein, es ist da, es lächelt. Alles ist schon da […]. Wir glauben, dass alles aus unseren wunderbaren Gehirnen stammt, aber wir sind das Werkzeug eines viel größeren Selbst." (60).

 

 

Fortsetzung