Der Gedanke der Anthropodizee 2

 

Exkurs I: Hypostase und Persönlichkeit bei S.Bulgakow und N.Berdjajew

In ähnliche Richtung wie Nikolaj Berdjajew schaut Sergej Bulgakow in seiner Darstellung: "Die Tragödie der Philosophie" (21), wenn er sich sehr ausführlich mit dem Begriff der "Hypostase" beschäftigt. Da die Hypostase u.U. ihren Entsprechungsbegriff in der "Persönlichkeit" im Sinne Berdjajews finden könnte, ziehen wir diesen anderen russischen Autor heran, um unsere Sicht zu erweitern. Ohne an dieser Stelle eine ausführliche historische Betrachtung des Hypostase-Begriffs – im Neuplatonismus als das höhere Sein und bei Tertullian als Substanz verstanden – aufzunehmen, kann angedeutet werden, dass sich altkirchliche Synoden (Alexandria 362) und Konzilien (Konstantinopel 381) damit beschäftigten, ob die Hypostase der "Person" gleichzusetzen sei. Man verständigte sich schließlich darauf, die eigentümlichen Unterschiede der Trinität, d.h. von Vater, Sohn und Geist unter dem Begriff der Hypostase zusammenzufassen. Bald setzte sich unter dem Einfluss der Kappadozier eine Gleichsetzung von Hypostase und Person durch. Ohne die weitreichenden Folgen dieser Entscheidung für die Entwicklung der Trinitätslehre weiter schildern zu können, halten wir fest, dass für S.Bulgakow die Hypostase bzw. die Person existiert. So wie nach Berdjajew die Persönlichkeit der noumenale Anteil am Menschen ist, unterschieden von seiner Seele und seiner biologischen Natur, so sieht Bulgakow die Hypostase, das hypostatische Ich als unbestimmbar, jenseits von Wort und Begriff stehend. Doch ebenso wenig wie die Persönlichkeit ohne Psyche und Natur existieren kann, vermag dies die Hypostase. Wenn sie auch absolut unbestimmbar bleibt – sozusagen in der Potentialität verbleibt – kann sie nicht als Leere gedeutet werden, sondern eher als Quelle des Denkens und des Schöpferischen. So entsteht das Denken in und aus dem, was selber nicht Denken ist. Dennoch wird aus dieser unfassbaren Quelle, aus dem unbestimmbaren Grund das Denken geboren. Die Gestaltung geschieht also nicht aus irgendeinem Etwas, sondern in gewissem Sinne aus dem Nichts, das dennoch nicht die Qualität eines Abwesenden hat. Dieses Ich, diese Hypostase ist – ähnlich wie Kant sagt – , ein schöpferisches Noumenon, der Geist selbst, der unfassbar bleibt, weil er weht, wo und wann er will (Joh 3,8). Dennoch darf dieses "Ich" nicht im Sinne eines Gegenstandes vorgestellt werden, weil es ein ungegenständliches "Ich" ist, das sich erst im Prädikat entbirgt und verkörpert. Es ist – um mit Erich Neumann zu sprechen – ein schöpferischer Nichts-Punkt. Als dieses unfassbare Nichts setzt es alle Dinge aus sich heraus, sie werden seine Prädikate. Das "Ich" selbst verharrt in der Ungegenständlichkeit.

Wollen wir unser Verständnis dessen vertiefen, so lassen wir Bulgakow noch einmal zu Wort kommen: "Das hypostatische Ich ist lebendiger Geist (was übrigens ein Synonym ist), dessen Lebenskraft sich in keiner Definition erschöpfen lässt. Er offenbart sich in der Zeit, steht aber selbst nicht nur über der Zeit, sondern auch über der Zeitlichkeit. Für die Hypostase gibt es kein Entstehen und kein Vergehen, keinen Anfang und kein Ende. Indem sie außerzeitlich ist, ist sie zugleich auch überzeitlich, ihr gehört die Ewigkeit, sie ist ebenso und im selben Sinne ewig wie Gott, der Selbst, aus Sich, dem Menschen bei dessen Erschaffung seinen Odem eingehaucht hat. Der Mensch ist Gottes Sohn und ein erschaffener Gott, und das Bild der Ewigkeit ist ihm unverlierbar und unauslöschlich eigen" (22). Erst auf diesem hypostatisch-trinitarischen Hintergrund lässt sich ein Zugang finden zu solch rätselhaften Worten Jesu Christi, wo sich die ewige in die Trinität eingefügte göttliche Hypostase, das ewige Ich bin als das ausspricht, was seine Bestimmung ist: Ehe Abraham war, bin ich (Joh 8,58) und sich als solches universales, ja kosmisches Ich mit der Welt und ihren Attributen (Brot: Joh 6,51, Licht: Joh 8,12, Weinstock: Joh 15,5) identifiziert. Das ewige hypostatische "Sein" ist zur Welt geworden, ist in ihr Anderes eingegangen, hat sich verzeitlicht und verendlicht, es hat die Natur als ihren "Leib" angenommen. So sieht es die philosophische idealistische Tradition bei Schelling und Hegel. Die Hypostase hat sich als Transzendentes mit dem Immanenten verbunden oder mit Bulgakow: Der Satzgegenstand, das noumenale Ich, kommt im Prädikat zur Entfaltung. So versteht Bulgakow – ähnlich wie Berdjajew die Persönlichkeit im Unterschied zum Individuum – die Hypostase keineswegs als psychologisches Ich oder als fassbare Subjektivität, wobei die Hypostase schon der Bestimmung unterläge, sondern für ihn sind Geist und Hypostase nicht psychische und konstatierbare, objekthafte Phänomene.

Aus Berdjajews besonderem Naturell und aus seiner metaphysischen Verankerung erklärt sich wohl ein ganz besonderes Verständnis des Denkers für das vom Mysterium umgebene Selbstbewusstsein Jesu Christ, das sein Heimatgefühl nicht aus dieser Welt bezieht, wenn er sich beschreibt: "Von Kind auf habe ich in meiner eigenen besonderen Welt gelebt. Niemals bin ich mit der Umwelt verschmolzen, die mir stets als nicht zu mir gehörig erschien. Ich trug ein ausgesprochenes Empfinden für meine Sonderart, für mein Anderssein in mir. Von einem ähnlichen Empfinden spricht A.Gide in seinem 'Tagebuch', aber die Ursachen sind andere. Nach außen war ich nicht nur bestrebt, meine Besonderheit nicht hervorzukehren, sondern im Gegenteil, ich bemühte mich immer, mir den Anschein zu geben und so zu tun, als ob ich genau so sei, wie alle anderen Menschen auch. Besonders dieses Gefühl darf nicht mit Eigendünkel verwechselt werden" (23). So lebte Berdjajew – wie er sagte – auf einer anderen Ebene, und er liebte den "Sinn" mehr als das Leben und den "Geist" mehr als die Welt. Es lag ihm fern, sich bewusst von anderen Menschen zu unterscheiden oder sich über andere zu erheben.

Es wurde ihm deutlich, dass nicht die Wissenschaft, die den Menschen nur als einen Teil der natürlichen Welt erfasst, sondern erst die Offenbarung Christi den Schlüssel zum Selbstbewusstsein des Menschen bot. In eben der gleichen Weise kann auch die Philosophie den Menschen nur ganz erfassen, wenn es im Rahmen einer religiösen Anthropologie geschieht, wo sie begreift, dass sie es bei dem Menschen mit einem "Subjekt des höheren Selbstbewusstseins, mit einem außernatürlichen und außerweltlichen Faktum" zu tun hat, dessen Wurzeln in einem noumenalen und nicht ausschließlich diesseitigen Raum verankert sind bzw. dass der diesseitige Raum ständig für eine andere – diesseitig-jenseitige – Dimension transparent werden kann. Nur so kann der Mensch "Zeuge des Unendlichen" werden, um den Titel der erwähnten Dürckheim-Festschrift noch einmal aufzugreifen. Als endliches Wesen ist es seine Bestimmung, die Unendlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Dies kann nur dann geschehen, wenn diese Verbindung von Geist, Seele und Körper als eine Einheit gesehen wird und man nicht die unergründliche Tiefe des hypostatischen Geistes auf die Fackel des erkennenden Bewusstseins beschränkt sieht (24).

Über die Bedeutung der Mystik, den Anthropozentrismus und das neue Bewusstsein

Erst mystisches Verstehen war in der Lage zu begreifen, dass alle Dinge eine Einheit bilden und "dass alles, was im Menschen vor sich geht, eine universale Bedeutung hat und sich im Kosmos ausprägt". So waren für Berdjajews sich ausweitendes Verständnis vom Menschen insbesondere die Kabbala, Jakob Böhme und Franz von Baader leitend, wobei der Gedanke des Adam Kadmon, des himmlischen Menschen, in seinen unterschiedlichen Werken stets neuen Niederschlag fand (25). Wenden wir uns für einen Augenblick dieser rätselhaften Gestalt des Adam Kadmon zu, so ist festzustellen dass dieser, wie etwa der Purusha in Indien – in der jüdisch-kabbalistischen Tradition als kosmischer Riese beschrieben wird. Der kosmische Urmensch war androgyn, und nach der Tradition des Isaak Lurja waren die Seelen der Menschen und der Geister in ihm enthalten. In der tiefenpsychologischen Sicht bei M.-L. von Franz "erscheint der kosmische Urmensch als Symbol des Selbst eines Kollektivs". Aus der Sicht des Religionswissenschaftlers Mircea Eliade verstand man unter diesem Protanthropos im Jenseits "eine Art von unbewusstem Gruppengeist", aus dem heraus alle Einzelnen leben. "Diese Bedeutung des Anthropos als Kollektivseele erklärt auch, warum in der jüdischen Tradition der "große Mensch" als erste Manifestation des unerkennbaren Gottes in der Schöpfung, der Adam Kadmon der Kabbalisten besteht" (M.-L. von Franz). Religionswissenschaftlich ist ein langer Weg zu durchschreiten, um über die Vorstellung des kosmischen, himmlischen Menschen dorthin zu gelangen, wo sich der Blick auf den Anthropos-Archetypus, den Menschensohn, sich abzeichnet, der durch die Vorgängerin, die Sophia (Weisheit) als "ein neuer Gottmensch auf Erden geschaffen" wird und sich in der historischen Gestalt Jesu Christi verkörpert. "Allerdings verkörpert er Gott hauptsächlich in seiner gütigen Seite, während die dunkle Seite Gottes, Satan, 'wie ein Blitz vom Himmel fällt' und Christo als Gegenspieler gegenüber tritt. Im Christentum wird somit der Anthropos [d.h. der Urmensch] zum ersten Mal in einer einmaligen historischen Persönlichkeit inkarniert, woran zugleich die Aussage geknüpft war, dass diese Inkarnation durch das Fortwirken des heiligen Geistes auch andere Menschen erreichen werde. In der Tat wurde Christus von da an auch als 'innere Figur' in anderen Individuen anerkannt. Das archetypische Motiv, dass der Anthropos die Seele des Volkes verkörpert, erscheint ebenfalls im Christentum wieder, in der Auffassung der Kirche als Leib Christi" (26).

Gerade und vor allem bei Jakob Böhme sah Berdjajew die Begrenztheit des alttestamentlichen Verstehens weggeräumt und fand die kosmogonischen und anthropogonischen Wahrheiten – etwa vom Neuen Adam – enthüllt. Während Berdjajew sich von der Mystik Indiens, Plotins und Meister Eckeharts milde distanzierte, fand die Lehre Rudolf Steiners bei ihm am wenigsten Verständnis, weil er die dort vertretene Anthroposophie für monistisch und naturalistisch hielt und weil sie der Kategorie der Freiheit fern steht.

Auch ein naturalistischer Anthropozentrismus wird von dem russischen Denker abgelehnt, weil dieser "in naiver Weise die Bedeutung des Menschen an die natürliche Welt knüpft". Demgegenüber ist festzuhalten: "Der Mensch beansprucht unermesslich viel mehr als jenes Selbstbewusstsein, welches der naturalistische Anthropozentrismus ihm zu geben imstande ist". Der Mensch kann eben nicht nur als natürliches Wesen verstanden werden, sondern er ist auch ein "übernatürliches Wesen, ein Wesen göttlichen Ursprungs und göttlicher Bestimmung, ein Wesen, das 'in dieser Welt' lebt, aber nicht 'von dieser Welt' ist" (27). Dieses Wesen wird ein höheres Bewusstsein bekommen, das sich als christologisches Bewusstsein versteht und das Selbstbewusstsein des Adam übersteigt. Damit bricht eine neue Phase in der Erschaffung der Welt an (28).

Zu § 2

In der Vorstellung von der zwei-einen Natur sieht unser Autor die zentrale ontologische Idee des Christentums, wobei die eine Natur geheimnisvoll die göttliche und die menschliche Natur umgreift, ohne dass die menschliche Natur in der göttlichen verschwindet. Mit dieser Vorstellung, dass wir es in Christus mit dem vollkommenen Gott und dem vollkommenen Menschen zu tun haben, hat die menschliche Vernunft – sagen wir besser: der menschliche Verstand (im hegelschen Sinne), der nur zergliedern und trennen, die Dinge aber nicht zusammenschauen kann – seine Schwierigkeiten. Stets sei der Verstand darum bemüht, "die Wahrheit von der Zwei-Einheit mit der Wahrheit von der Einheit zu vertauschen" und alles auf einen Monismus zu reduzieren: Christus sei nur Gott – oder er sei nur Mensch. "Der rationale menschliche Gedanke schwang zwischen Monismus und Dualismus. Es gibt keine größere Schwierigkeit für das rationale Bewusstsein, als das Geheimnis der Zwei-Einheit zweier Naturen zu begreifen: diese Schwierigkeit sehen wir an dem Beispiel des klassischen deutschen Idealismus des 19. Jahrhunderts, welcher eine monophysitische Häresie darstellt. Fichte, Hegel, sogar Schelling – wiewohl in seiner letzten Periode in minderem Grade – sind Monisten, Monophysiten: sie erkennen nur eine Natur, die göttliche, an, in welcher der Mensch, die Selbständigkeit der menschlichen Natur verschwindet. Der deutsche Idealismus konnte das religiöse Problem des Menschen niemals lösen, es nicht einmal stellen. Er verneint die ursprüngliche Freiheit des Menschen; für ihn ist nur Gott frei. Der Mensch verschwindet in dem Welt-Geist, in der Welt-Vernunft, in dem Welt-Ich, in dem unpersönlich Göttlichen. Der Mensch muss stille werden, in ihm denkt und will der Geist, die Gottheit, welche sich allmählich in der Geschichte des menschlichen Selbstbewusstseins entfaltet […]. Dem deutschen Idealismus war die Offenbarung der zwei-einen Natur Christi – des Gottmenschen fremd. In dem deutschen idealistischen Bewusstsein war Christus ein Mensch, in dem sich die Gottheit enthüllte. Es gibt nur eine Natur – die göttliche. Aber es gibt verschiedene Grade ihrer Entfaltung. Der Mensch ist nur ein Moment der Entfaltung der göttlichen Natur" (29).

In seinem Protest gegen den deutschen Idealismus – insbesondere in der Ausprägung Hegels – entging Berdjajew, dass Hegel mit seiner trinitarischen bestimmten philosophischen Konzeption zu seiner Zeit zu verhindern versuchte, dass die Kirche und der damalige Glaube bestrebt war, Gott auf ein Objekt zu reduzieren mit der Folge, dass diese seine Außerweltlichkeit bzw. Anderweltlichkeit zu einem Atheismus einer gott-losen Welt führen konnte, der sich auf diese Welt beschränkte. Diese Entfremdung sah Hegel im kantischen Dualismus ausgedrückt, den es zu überwinden galt. Aus diesem Grund und "um den notwendigen Durchgang durch die Entfremdung als einen Weg zu einem ganzen und umfassenden Selbst anzuerkennen, benutzte Hegel die Dialektik der trinitarischen Selbst-Offenbarung, spekulativ gedeutet als selbstsetzendes Subjekt und philosophisch neu formuliert als absoluter versöhnender Geist" (so nach Dale Schlitt, Hegels trinitarische Herausforderung (dt. Übersetzg.), Leiden 1984).

Gegenüber der Linie, die Berdjajew schon bei Meister Eckehart im Keim angelegt und im Protestantismus (K.Barth) entfaltet sieht, warnt er gerade vor diesem monophysitischen Irrweg, der nicht nur im Gegensatz zum Christentum stehe, sondern auch dem Urphänomen religiösen Lebens widerspreche, denn: "Das Geheimnis des Christentums und das Geheimnis allen religiösen Lebens liegt in dieser Begegnung zweier Naturen, in der Begegnung des Menschen und Gottes, nicht aber in der monophysitischen Offenbarung des einen göttlichen Prinzips, das der Welt zugrunde liegt […]. Gott bedarf des Menschen, Gott will, dass nicht nur Er sei, sondern auch der Mensch, der Geliebte und der Liebende" (30). So muss und soll der eine sich in und durch den anderen offenbaren, weil der Mensch die größte Sehnsucht Gottes ist und Gott die schöpferische Freiheit und damit auch das Schaffen des Menschen erwartet. "Der Mensch soll Gott aus Liebe zu Ihm, in Beantwortung der göttlichen Liebe, den ganzen Überfluss seiner schöpferischen Kräfte geben. Es gibt die göttliche Sehnsucht nach dem Menschen, nach seinem Anderen, die Sehnsucht des Liebenden, welcher nach der Erwiderung der Liebe dürstet. Darin liegt das göttliche Mysterium" (31). Denkt – nach Berdjajew – die theologische Lehre, dass Gott unbeweglich sei, so bleibt es bei einem abstrakten Monotheismus, weil Bewegung in Gott als Unvollkommenheit, Mangelhaftigkeit und Bedürftigkeit angesehen werde. Demgegenüber kann – so der russische Religionsphilosoph – von Gott nur antinomisch gesprochen werden, weil im Sinne des Nikolaus von Kues in ihm die Gegensätze zusammenfallen. Bei dieser coincidentia oppositorum fällt die Ruhe mit der Bewegung, die Seligkeit mit dem Leiden zusammen. Die im Folgenden von Berdjajew formulierte Aussage hat im theologischen Bereich zu umfangreichen Auseinandersetzungen mit ihm geführt. Berdjajew sagt: "Es gibt eine Tragödie in Gott, ein göttliches Mysterium, ein ursprüngliches und ewiges Mysterium des Geistes. Und am meisten muss dies das Christentum anerkennen. Das Christentum ist die Religion des leidenden Gottes, die Religion des Leidens des Herrn. Das Christentum lehrt, dass Gott selbst die Nacht in Gethsemane und die Pein auf Golgatha erlebte. Golgatha ist eine Tragödie in Gott, nicht nur eine Tragödie in der Welt, eine tragische Bewegung in dem Schoße des göttlichen Lebens. Gott ist Leben, Schicksal, Mysterium, keine erstarrte Substanz. Der christliche Gott ist der Gott der Liebe, – nicht der abstrakten, unpersönlichen, sondern der konkreten persönlichen Liebe. Er ist ein Liebender und ein die Erwiderung der Liebe Erwartender. Aber die Liebe ist eine tragische Bewegung. Die göttliche Tragödie ist die Tragödie der Liebe und der Freiheit" (32).

Der Gedanke der Freiheit bei Dostojewskij in der Interpretation durch N.Berdjajew

Dieser Gedanke, dass Gott die freie und freiwillige Liebe des Menschen erwartet, gehört zu Berdjajews Zentralgedanken, die in unterschiedlicher sprachlicher Formulierung stets wiederkehren, auch in seinen Überlegungen zur Anthropodizee. "Gott braucht nicht die erzwungene Liebe des Menschen, dessen erzwungene Unterwerfung unter seinen Willen. Gott braucht die Freiheit des Menschen, die freie Zugewandtheit des Menschen zu Gott. Es gäbe keine Tragödie im Weltleben, wenn Gott der Freiheit nicht bedürfte, wenn der Sinn des Weltlebens nicht in die Freiheit gelegt würde. Die Freiheit ist immer tragisch, sie erzeugt die Leiden des Lebens. Eine zwangsmäßige Einrichtung des Weltlebens würde die Leiden abwenden, die Tragödie der Welt überflüssig machen. Der Mensch ist oft, nur zu oft damit einverstanden, sich von der Freiheit loszusagen, um die Qualen und Leiden des Lebens zu vermindern, die Tragödie des Lebens abzuschwächen. Der Mensch ist damit einverstanden, auf die Freiheit zu verzichten. Aber Gott, – Gott und nicht der Mensch – kann nicht, ist nicht damit einverstanden, auf die Freiheit des Menschen zu verzichten. Gott bedarf der Freiheit des Menschen, der Freiheit der Welt. Darin hat Er den Sinn des menschlichen und des universalen Lebens gelegt. Solcher Art ist das göttliche Mysterium des Seins, das Mysterium des Lebens. Es ist das Mysterium der Liebe und der Freiheit. In ihm wird Gott im Menschen und der Mensch in Gott geboren" (33).

Es ist unübersehbar, welche weitreichenden Folgen für Berdjajew die intensive Beschäftigung mit F.Dostojewskij und schließlich die Abfassung seines Werkes über den russischen Dichter mit sich brachten (34). Da für Berdjajew neben Jakob Böhme insbesondere Dostojewskij der Kronzeuge seines Freiheitsgedankens ist, seien nachstehend einige diesbezüglichen Aussagen angeführt: "Die Freiheit des ersten Adam und die Freiheit des zweiten Adam, die Freiheit in Christo sind verschiedene Freiheiten. Die Wahrheit macht den Menschen frei, aber der Mensch muss sich frei zur Wahrheit bekennen, er kann nicht zwangsweise, durch Gewalt ihr zugeführt werden. Christus gibt dem Menschen die letzte Freiheit, aber der Mensch muss sich frei zu Christo bekennen. 'Dich verlangte nach der freien Liebe des Menschen, frei soll er Dir folgen, von Dir verlockt und bezaubert' (Worte des Großinquisitors). In diesem freien Bekenntnis zu Christo liegt die ganze Würde des Christen, der ganze Sinn des Glaubensaktes, der ja eben ein Freiheitsakt ist. Die Würde des Menschen, die Würde seines Glaubens setzt die Anerkennung beider Freiheiten voraus: die Freiheit von Gut und Böse und die Freiheit im Guten, die Freiheit in der Wahl der Wahrheit und die Freiheit in der Wahrheit" (35). Es ist nicht nur für unseren Zusammenhang, sondern grundsätzlich von höchster Bedeutung, dass das zwangsweise Gute nicht mehr das Gute ist, dass das Gute nicht erzwungen und man zum Guten nicht genötigt werden kann. Wenn man sich daran erinnern lässt, dass der Christus des Johannes-Evangeliums sagt: "Ihr werdet die Wahrheit erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen " (Joh 8,32), so wird auch Berdjajews Wort in seiner Berechtigung bestätigt werden müssen: "Denn es gibt nicht nur eine Freiheit in der Wahrheit, sondern auch eine Wahrheit über die Freiheit. Muss aber die Lösung des jahrhundertealten Themas über die Freiheit nicht darin gesucht werden, dass Christus nicht nur die Wahrheit ist, die Freiheit gibt, sondern auch die Wahrheit über die Freiheit, die freie Wahrheit, dass Christus – die Freiheit, die freie Liebe zu Gott ist?" (36)

Gott verlangt nach der freien und nicht nach der erzwungenen Liebe des Menschen. Dem russischen Dichter und seinem philosophischen Interpreten lag viel daran, jegliches zwingende Wunder (vgl. Mt 4,1-11) oder irgendeine Autorität als "Vergewaltigung des menschlichen Gewissens" und als "Enteignung der Geistesfreiheit des Menschen" abzulehnen: "Niemand vergewaltigt das menschliche Gewissen in der Erscheinung Christi. Die Religion Golgathas ist die Religion der Freiheit. Der Sohn Gottes, der in 'Knechtsgestalt' in die Welt kam und gekreuzigt wurde, von der Welt zerfleischt, richtet sich an die Freiheit des menschlichen Geistes. Nichts vergewaltigt im Bilde Gottes, nichts nötigt, an ihn als Gott zu glauben. Er war keine Macht und keine Gewalt im Reiche dieser Welt. Er predigte ein Reich, das nicht von dieser Welt ist. Hierin liegt das Urgeheimnis des Christentums, das Geheimnis der Freiheit. Es ist eine außerordentliche Freiheit des Geistes, ein ungeheurer freier Glaubensakt, eine freie Beseelung 'unsichtbarer Dinge' erforderlich, um in der Knechtsgestalt Jesu seinen Gott zu erkennen" (37).

 

Fortsetzung