Der Gedanke
der Anthropodizee 2
Exkurs I: Hypostase und Persönlichkeit bei
S.Bulgakow und N.Berdjajew
In
ähnliche Richtung wie Nikolaj Berdjajew schaut Sergej Bulgakow in seiner
Darstellung: "Die Tragödie der Philosophie" (21), wenn er sich sehr
ausführlich mit dem Begriff der "Hypostase" beschäftigt. Da die Hypostase
u.U. ihren Entsprechungsbegriff in der "Persönlichkeit" im Sinne
Berdjajews finden könnte, ziehen wir diesen anderen russischen Autor heran, um
unsere Sicht zu erweitern. Ohne an dieser Stelle eine ausführliche historische
Betrachtung des Hypostase-Begriffs – im Neuplatonismus als das höhere Sein
und bei Tertullian als Substanz verstanden – aufzunehmen, kann
angedeutet werden, dass sich altkirchliche Synoden (Alexandria 362) und
Konzilien (Konstantinopel 381) damit beschäftigten, ob die Hypostase der
"Person" gleichzusetzen sei. Man verständigte sich schließlich
darauf, die eigentümlichen Unterschiede der Trinität, d.h. von Vater, Sohn und
Geist unter dem Begriff der Hypostase zusammenzufassen. Bald setzte sich
unter dem Einfluss der Kappadozier eine Gleichsetzung von Hypostase und Person
durch. Ohne die weitreichenden Folgen dieser Entscheidung für die Entwicklung
der Trinitätslehre weiter schildern zu können, halten wir fest, dass für
S.Bulgakow die Hypostase bzw. die Person existiert. So wie nach Berdjajew die
Persönlichkeit der noumenale Anteil am Menschen ist, unterschieden von seiner
Seele und seiner biologischen Natur, so sieht Bulgakow die Hypostase, das hypostatische
Ich als unbestimmbar, jenseits von Wort und Begriff stehend. Doch ebenso wenig
wie die Persönlichkeit ohne Psyche und Natur existieren kann, vermag dies die
Hypostase. Wenn sie auch absolut unbestimmbar bleibt – sozusagen in der
Potentialität verbleibt – kann sie nicht als Leere gedeutet werden,
sondern eher als Quelle des Denkens und des Schöpferischen. So entsteht das
Denken in und aus dem, was selber nicht Denken ist. Dennoch wird aus dieser
unfassbaren Quelle, aus dem unbestimmbaren Grund das Denken geboren. Die
Gestaltung geschieht also nicht aus irgendeinem Etwas, sondern in gewissem
Sinne aus dem Nichts, das dennoch nicht die Qualität eines Abwesenden
hat. Dieses Ich, diese Hypostase ist – ähnlich wie Kant sagt – , ein
schöpferisches Noumenon, der Geist selbst, der unfassbar bleibt, weil er weht,
wo und wann er will (Joh 3,8). Dennoch darf dieses "Ich" nicht im
Sinne eines Gegenstandes vorgestellt werden, weil es ein ungegenständliches
"Ich" ist, das sich erst im Prädikat entbirgt und verkörpert. Es ist
– um mit Erich Neumann zu sprechen – ein schöpferischer Nichts-Punkt. Als
dieses unfassbare Nichts setzt es alle Dinge aus sich heraus, sie werden
seine Prädikate. Das "Ich" selbst verharrt in der
Ungegenständlichkeit.
Wollen
wir unser Verständnis dessen vertiefen, so lassen wir Bulgakow noch einmal zu
Wort kommen: "Das hypostatische Ich ist lebendiger Geist (was übrigens ein
Synonym ist), dessen Lebenskraft sich in keiner Definition erschöpfen lässt. Er
offenbart sich in der Zeit, steht aber selbst nicht nur über der Zeit, sondern
auch über der Zeitlichkeit. Für die Hypostase gibt es kein Entstehen und kein
Vergehen, keinen Anfang und kein Ende. Indem sie außerzeitlich ist, ist sie
zugleich auch überzeitlich, ihr gehört die Ewigkeit, sie ist ebenso und im
selben Sinne ewig wie Gott, der Selbst, aus Sich, dem Menschen bei dessen
Erschaffung seinen Odem eingehaucht hat. Der Mensch ist Gottes Sohn und ein
erschaffener Gott, und das Bild der Ewigkeit ist ihm unverlierbar und
unauslöschlich eigen" (22). Erst auf diesem hypostatisch-trinitarischen
Hintergrund lässt sich ein Zugang finden zu solch rätselhaften Worten Jesu
Christi, wo sich die ewige in die Trinität eingefügte göttliche Hypostase, das
ewige Ich bin als das ausspricht, was seine Bestimmung ist: Ehe
Abraham war, bin ich (Joh 8,58) und sich als solches
universales, ja kosmisches Ich mit der Welt und ihren Attributen (Brot:
Joh 6,51, Licht: Joh 8,12, Weinstock: Joh 15,5) identifiziert. Das ewige
hypostatische "Sein" ist zur Welt geworden, ist in ihr Anderes
eingegangen, hat sich verzeitlicht und verendlicht, es hat die Natur als ihren
"Leib" angenommen. So sieht es die philosophische idealistische
Tradition bei Schelling und Hegel. Die Hypostase hat sich als Transzendentes
mit dem Immanenten verbunden oder mit Bulgakow: Der Satzgegenstand, das
noumenale Ich, kommt im Prädikat zur Entfaltung. So versteht Bulgakow – ähnlich
wie Berdjajew die Persönlichkeit im Unterschied zum Individuum – die Hypostase
keineswegs als psychologisches Ich oder als fassbare Subjektivität, wobei die
Hypostase schon der Bestimmung unterläge, sondern für ihn sind Geist und
Hypostase nicht psychische und konstatierbare, objekthafte Phänomene.
Aus
Berdjajews besonderem Naturell und aus seiner metaphysischen Verankerung erklärt
sich wohl ein ganz besonderes Verständnis des Denkers für das vom Mysterium
umgebene Selbstbewusstsein Jesu Christ, das sein Heimatgefühl nicht aus dieser
Welt bezieht, wenn er sich beschreibt: "Von Kind auf habe ich in meiner
eigenen besonderen Welt gelebt. Niemals bin ich mit der Umwelt verschmolzen,
die mir stets als nicht zu mir gehörig erschien. Ich trug ein ausgesprochenes
Empfinden für meine Sonderart, für mein Anderssein in mir. Von einem ähnlichen
Empfinden spricht A.Gide in seinem 'Tagebuch', aber die Ursachen sind andere.
Nach außen war ich nicht nur bestrebt, meine Besonderheit nicht hervorzukehren,
sondern im Gegenteil, ich bemühte mich immer, mir den Anschein zu geben und so
zu tun, als ob ich genau so sei, wie alle anderen Menschen auch. Besonders
dieses Gefühl darf nicht mit Eigendünkel verwechselt werden" (23). So
lebte Berdjajew – wie er sagte – auf einer anderen Ebene, und er liebte den
"Sinn" mehr als das Leben und den "Geist" mehr als die
Welt. Es lag ihm fern, sich bewusst von anderen Menschen zu unterscheiden oder
sich über andere zu erheben.
Es
wurde ihm deutlich, dass nicht die Wissenschaft, die den Menschen nur als einen
Teil der natürlichen Welt erfasst, sondern erst die Offenbarung Christi den
Schlüssel zum Selbstbewusstsein des Menschen bot. In eben der gleichen Weise
kann auch die Philosophie den Menschen nur ganz erfassen, wenn es im Rahmen
einer religiösen Anthropologie geschieht, wo sie begreift, dass sie es bei dem
Menschen mit einem "Subjekt des höheren Selbstbewusstseins, mit einem
außernatürlichen und außerweltlichen Faktum" zu tun hat, dessen Wurzeln in
einem noumenalen und nicht ausschließlich diesseitigen Raum verankert sind bzw.
dass der diesseitige Raum ständig für eine andere – diesseitig-jenseitige –
Dimension transparent werden kann. Nur so kann der Mensch "Zeuge des
Unendlichen" werden, um den Titel der erwähnten Dürckheim-Festschrift noch
einmal aufzugreifen. Als endliches Wesen ist es seine Bestimmung, die
Unendlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Dies kann nur dann geschehen, wenn diese
Verbindung von Geist, Seele und Körper als eine Einheit gesehen wird und man
nicht die unergründliche Tiefe des hypostatischen Geistes auf die Fackel des
erkennenden Bewusstseins beschränkt sieht (24).
Über die Bedeutung der Mystik, den
Anthropozentrismus und das neue Bewusstsein
Erst
mystisches Verstehen war in der Lage zu begreifen, dass alle Dinge eine Einheit
bilden und "dass alles, was im Menschen vor sich geht, eine universale
Bedeutung hat und sich im Kosmos ausprägt". So waren für Berdjajews sich
ausweitendes Verständnis vom Menschen insbesondere die Kabbala, Jakob Böhme und
Franz von Baader leitend, wobei der Gedanke des Adam Kadmon, des himmlischen
Menschen, in seinen unterschiedlichen Werken stets neuen Niederschlag fand
(25). Wenden wir uns für einen Augenblick dieser rätselhaften Gestalt des Adam
Kadmon zu, so ist festzustellen dass dieser, wie etwa der Purusha in
Indien – in der jüdisch-kabbalistischen Tradition als kosmischer Riese
beschrieben wird. Der kosmische Urmensch war androgyn, und nach der Tradition
des Isaak Lurja waren die Seelen der Menschen und der Geister in ihm enthalten.
In der tiefenpsychologischen Sicht bei M.-L. von Franz "erscheint der
kosmische Urmensch als Symbol des Selbst eines Kollektivs". Aus der
Sicht des Religionswissenschaftlers Mircea Eliade verstand man unter diesem Protanthropos
im Jenseits "eine Art von unbewusstem Gruppengeist", aus dem heraus
alle Einzelnen leben. "Diese Bedeutung des Anthropos als Kollektivseele
erklärt auch, warum in der jüdischen Tradition der "große Mensch" als
erste Manifestation des unerkennbaren Gottes in der Schöpfung, der Adam
Kadmon der Kabbalisten besteht" (M.-L. von Franz).
Religionswissenschaftlich ist ein langer Weg zu durchschreiten, um über die
Vorstellung des kosmischen, himmlischen Menschen dorthin zu gelangen, wo sich
der Blick auf den Anthropos-Archetypus, den Menschensohn, sich
abzeichnet, der durch die Vorgängerin, die Sophia (Weisheit) als "ein
neuer Gottmensch auf Erden geschaffen" wird und sich in der historischen
Gestalt Jesu Christi verkörpert. "Allerdings verkörpert er Gott
hauptsächlich in seiner gütigen Seite, während die dunkle Seite Gottes, Satan,
'wie ein Blitz vom Himmel fällt' und Christo als Gegenspieler gegenüber tritt.
Im Christentum wird somit der Anthropos [d.h. der Urmensch] zum ersten Mal in
einer einmaligen historischen Persönlichkeit inkarniert, woran zugleich
die Aussage geknüpft war, dass diese Inkarnation durch das Fortwirken des
heiligen Geistes auch andere Menschen erreichen werde. In der Tat wurde
Christus von da an auch als 'innere Figur' in anderen Individuen anerkannt. Das
archetypische Motiv, dass der Anthropos die Seele des Volkes verkörpert,
erscheint ebenfalls im Christentum wieder, in der Auffassung der Kirche als Leib
Christi" (26).
Gerade
und vor allem bei Jakob Böhme sah Berdjajew die Begrenztheit des
alttestamentlichen Verstehens weggeräumt und fand die kosmogonischen und
anthropogonischen Wahrheiten – etwa vom Neuen Adam – enthüllt. Während
Berdjajew sich von der Mystik Indiens, Plotins und Meister Eckeharts milde
distanzierte, fand die Lehre Rudolf Steiners bei ihm am wenigsten Verständnis,
weil er die dort vertretene Anthroposophie für monistisch und naturalistisch
hielt und weil sie der Kategorie der Freiheit fern steht.
Auch
ein naturalistischer Anthropozentrismus wird von dem russischen Denker
abgelehnt, weil dieser "in naiver Weise die Bedeutung des Menschen an die
natürliche Welt knüpft". Demgegenüber ist festzuhalten: "Der Mensch
beansprucht unermesslich viel mehr als jenes Selbstbewusstsein, welches der
naturalistische Anthropozentrismus ihm zu geben imstande ist". Der Mensch
kann eben nicht nur als natürliches Wesen verstanden werden, sondern er ist
auch ein "übernatürliches Wesen, ein Wesen göttlichen Ursprungs und
göttlicher Bestimmung, ein Wesen, das 'in dieser Welt' lebt, aber nicht 'von
dieser Welt' ist" (27). Dieses Wesen wird ein höheres Bewusstsein
bekommen, das sich als christologisches Bewusstsein versteht und das
Selbstbewusstsein des Adam übersteigt. Damit bricht eine neue Phase in der
Erschaffung der Welt an (28).
Zu § 2
In
der Vorstellung von der zwei-einen Natur sieht unser Autor die zentrale
ontologische Idee des Christentums, wobei die eine Natur geheimnisvoll die
göttliche und die menschliche Natur umgreift, ohne dass die menschliche Natur
in der göttlichen verschwindet. Mit dieser Vorstellung, dass wir es in Christus
mit dem vollkommenen Gott und dem vollkommenen Menschen zu tun haben, hat die
menschliche Vernunft – sagen wir besser: der menschliche Verstand (im
hegelschen Sinne), der nur zergliedern und trennen, die Dinge aber nicht
zusammenschauen kann – seine Schwierigkeiten. Stets sei der Verstand darum
bemüht, "die Wahrheit von der Zwei-Einheit mit der Wahrheit von der
Einheit zu vertauschen" und alles auf einen Monismus zu reduzieren:
Christus sei nur Gott – oder er sei nur Mensch. "Der
rationale menschliche Gedanke schwang zwischen Monismus und Dualismus. Es gibt
keine größere Schwierigkeit für das rationale Bewusstsein, als das Geheimnis
der Zwei-Einheit zweier Naturen zu begreifen: diese Schwierigkeit sehen wir an
dem Beispiel des klassischen deutschen Idealismus des 19. Jahrhunderts, welcher
eine monophysitische Häresie darstellt. Fichte, Hegel, sogar Schelling –
wiewohl in seiner letzten Periode in minderem Grade – sind Monisten,
Monophysiten: sie erkennen nur eine Natur, die göttliche, an, in welcher der
Mensch, die Selbständigkeit der menschlichen Natur verschwindet. Der deutsche
Idealismus konnte das religiöse Problem des Menschen niemals lösen, es nicht
einmal stellen. Er verneint die ursprüngliche Freiheit des Menschen; für ihn
ist nur Gott frei. Der Mensch verschwindet in dem Welt-Geist, in der
Welt-Vernunft, in dem Welt-Ich, in dem unpersönlich Göttlichen. Der Mensch muss
stille werden, in ihm denkt und will der Geist, die Gottheit, welche sich
allmählich in der Geschichte des menschlichen Selbstbewusstseins entfaltet […].
Dem deutschen Idealismus war die Offenbarung der zwei-einen Natur Christi – des
Gottmenschen fremd. In dem deutschen idealistischen Bewusstsein war Christus
ein Mensch, in dem sich die Gottheit enthüllte. Es gibt nur eine Natur – die
göttliche. Aber es gibt verschiedene Grade ihrer Entfaltung. Der Mensch ist nur
ein Moment der Entfaltung der göttlichen Natur" (29).
In
seinem Protest gegen den deutschen Idealismus – insbesondere in der Ausprägung
Hegels – entging Berdjajew, dass Hegel mit seiner trinitarischen bestimmten
philosophischen Konzeption zu seiner Zeit zu verhindern versuchte, dass die
Kirche und der damalige Glaube bestrebt war, Gott auf ein Objekt zu reduzieren
mit der Folge, dass diese seine Außerweltlichkeit bzw. Anderweltlichkeit zu
einem Atheismus einer gott-losen Welt führen konnte, der sich auf diese Welt
beschränkte. Diese Entfremdung sah Hegel im kantischen Dualismus ausgedrückt,
den es zu überwinden galt. Aus diesem Grund und "um den notwendigen
Durchgang durch die Entfremdung als einen Weg zu einem ganzen und umfassenden
Selbst anzuerkennen, benutzte Hegel die Dialektik der trinitarischen Selbst-Offenbarung,
spekulativ gedeutet als selbstsetzendes Subjekt und philosophisch neu
formuliert als absoluter versöhnender Geist" (so nach Dale Schlitt, Hegels
trinitarische Herausforderung (dt. Übersetzg.), Leiden 1984).
Gegenüber
der Linie, die Berdjajew schon bei Meister Eckehart im Keim angelegt und im
Protestantismus (K.Barth) entfaltet sieht, warnt er gerade vor diesem
monophysitischen Irrweg, der nicht nur im Gegensatz zum Christentum stehe,
sondern auch dem Urphänomen religiösen Lebens widerspreche, denn: "Das
Geheimnis des Christentums und das Geheimnis allen religiösen Lebens liegt in
dieser Begegnung zweier Naturen, in der Begegnung des Menschen und Gottes,
nicht aber in der monophysitischen Offenbarung des einen göttlichen Prinzips,
das der Welt zugrunde liegt […]. Gott bedarf des Menschen, Gott will, dass
nicht nur Er sei, sondern auch der Mensch, der Geliebte und der Liebende"
(30). So muss und soll der eine sich in und durch den anderen offenbaren, weil
der Mensch die größte Sehnsucht Gottes ist und Gott die schöpferische Freiheit
und damit auch das Schaffen des Menschen erwartet. "Der Mensch soll Gott
aus Liebe zu Ihm, in Beantwortung der göttlichen Liebe, den ganzen Überfluss
seiner schöpferischen Kräfte geben. Es gibt die göttliche Sehnsucht nach dem
Menschen, nach seinem Anderen, die Sehnsucht des Liebenden, welcher nach der
Erwiderung der Liebe dürstet. Darin liegt das göttliche Mysterium" (31).
Denkt – nach Berdjajew – die theologische Lehre, dass Gott unbeweglich sei, so
bleibt es bei einem abstrakten Monotheismus, weil Bewegung in Gott als
Unvollkommenheit, Mangelhaftigkeit und Bedürftigkeit angesehen werde.
Demgegenüber kann – so der russische Religionsphilosoph – von Gott nur
antinomisch gesprochen werden, weil im Sinne des Nikolaus von Kues in ihm die
Gegensätze zusammenfallen. Bei dieser coincidentia oppositorum fällt die
Ruhe mit der Bewegung, die Seligkeit mit dem Leiden zusammen. Die im Folgenden
von Berdjajew formulierte Aussage hat im theologischen Bereich zu umfangreichen
Auseinandersetzungen mit ihm geführt. Berdjajew sagt: "Es gibt eine
Tragödie in Gott, ein göttliches Mysterium, ein ursprüngliches und ewiges
Mysterium des Geistes. Und am meisten muss dies das Christentum anerkennen. Das
Christentum ist die Religion des leidenden Gottes, die Religion des Leidens des
Herrn. Das Christentum lehrt, dass Gott selbst die Nacht in Gethsemane und die
Pein auf Golgatha erlebte. Golgatha ist eine Tragödie in Gott, nicht nur eine
Tragödie in der Welt, eine tragische Bewegung in dem Schoße des göttlichen
Lebens. Gott ist Leben, Schicksal, Mysterium, keine erstarrte Substanz. Der
christliche Gott ist der Gott der Liebe, – nicht der abstrakten,
unpersönlichen, sondern der konkreten persönlichen Liebe. Er ist ein Liebender
und ein die Erwiderung der Liebe Erwartender. Aber die Liebe ist eine tragische
Bewegung. Die göttliche Tragödie ist die Tragödie der Liebe und der
Freiheit" (32).
Der Gedanke der Freiheit bei Dostojewskij in der
Interpretation durch N.Berdjajew
Dieser
Gedanke, dass Gott die freie und freiwillige Liebe des Menschen erwartet,
gehört zu Berdjajews Zentralgedanken, die in unterschiedlicher sprachlicher
Formulierung stets wiederkehren, auch in seinen Überlegungen zur Anthropodizee.
"Gott braucht nicht die erzwungene Liebe des Menschen, dessen erzwungene
Unterwerfung unter seinen Willen. Gott braucht die Freiheit des Menschen, die
freie Zugewandtheit des Menschen zu Gott. Es gäbe keine Tragödie im Weltleben,
wenn Gott der Freiheit nicht bedürfte, wenn der Sinn des Weltlebens nicht in
die Freiheit gelegt würde. Die Freiheit ist immer tragisch, sie erzeugt die
Leiden des Lebens. Eine zwangsmäßige Einrichtung des Weltlebens würde die
Leiden abwenden, die Tragödie der Welt überflüssig machen. Der Mensch ist oft,
nur zu oft damit einverstanden, sich von der Freiheit loszusagen, um die Qualen
und Leiden des Lebens zu vermindern, die Tragödie des Lebens abzuschwächen. Der
Mensch ist damit einverstanden, auf die Freiheit zu verzichten. Aber Gott, –
Gott und nicht der Mensch – kann nicht, ist nicht damit einverstanden, auf die
Freiheit des Menschen zu verzichten. Gott bedarf der Freiheit des Menschen, der
Freiheit der Welt. Darin hat Er den Sinn des menschlichen und des universalen
Lebens gelegt. Solcher Art ist das göttliche Mysterium des Seins, das Mysterium
des Lebens. Es ist das Mysterium der Liebe und der Freiheit. In ihm wird Gott
im Menschen und der Mensch in Gott geboren" (33).
Es
ist unübersehbar, welche weitreichenden Folgen für Berdjajew die intensive
Beschäftigung mit F.Dostojewskij und schließlich die Abfassung seines Werkes
über den russischen Dichter mit sich brachten (34). Da für Berdjajew neben
Jakob Böhme insbesondere Dostojewskij der Kronzeuge seines Freiheitsgedankens
ist, seien nachstehend einige diesbezüglichen Aussagen angeführt: "Die
Freiheit des ersten Adam und die Freiheit des zweiten Adam, die Freiheit in
Christo sind verschiedene Freiheiten. Die Wahrheit macht den Menschen frei,
aber der Mensch muss sich frei zur Wahrheit bekennen, er kann nicht
zwangsweise, durch Gewalt ihr zugeführt werden. Christus gibt dem Menschen die
letzte Freiheit, aber der Mensch muss sich frei zu Christo bekennen. 'Dich
verlangte nach der freien Liebe des Menschen, frei soll er Dir folgen, von Dir
verlockt und bezaubert' (Worte des Großinquisitors). In diesem freien
Bekenntnis zu Christo liegt die ganze Würde des Christen, der ganze Sinn des
Glaubensaktes, der ja eben ein Freiheitsakt ist. Die Würde des Menschen, die
Würde seines Glaubens setzt die Anerkennung beider Freiheiten voraus: die Freiheit
von Gut und Böse und die Freiheit im Guten, die Freiheit in der Wahl der
Wahrheit und die Freiheit in der Wahrheit" (35). Es ist nicht nur für
unseren Zusammenhang, sondern grundsätzlich von höchster Bedeutung, dass das
zwangsweise Gute nicht mehr das Gute ist, dass das Gute nicht erzwungen und man
zum Guten nicht genötigt werden kann. Wenn man sich daran erinnern lässt, dass
der Christus des Johannes-Evangeliums sagt: "Ihr werdet die Wahrheit
erkennen und die Wahrheit wird euch frei machen " (Joh 8,32), so wird auch
Berdjajews Wort in seiner Berechtigung bestätigt werden müssen: "Denn es
gibt nicht nur eine Freiheit in der Wahrheit, sondern auch eine Wahrheit über
die Freiheit. Muss aber die Lösung des jahrhundertealten Themas über die
Freiheit nicht darin gesucht werden, dass Christus nicht nur die Wahrheit ist,
die Freiheit gibt, sondern auch die Wahrheit über die Freiheit, die freie
Wahrheit, dass Christus – die Freiheit, die freie Liebe zu Gott ist?" (36)
Gott
verlangt nach der freien und nicht nach der erzwungenen Liebe des Menschen. Dem
russischen Dichter und seinem philosophischen Interpreten lag viel daran,
jegliches zwingende Wunder (vgl. Mt 4,1-11) oder irgendeine Autorität als
"Vergewaltigung des menschlichen Gewissens" und als "Enteignung
der Geistesfreiheit des Menschen" abzulehnen: "Niemand vergewaltigt
das menschliche Gewissen in der Erscheinung Christi. Die Religion Golgathas ist
die Religion der Freiheit. Der Sohn Gottes, der in 'Knechtsgestalt' in die Welt
kam und gekreuzigt wurde, von der Welt zerfleischt, richtet sich an die
Freiheit des menschlichen Geistes. Nichts vergewaltigt im Bilde Gottes, nichts
nötigt, an ihn als Gott zu glauben. Er war keine Macht und keine Gewalt im
Reiche dieser Welt. Er predigte ein Reich, das nicht von dieser Welt ist.
Hierin liegt das Urgeheimnis des Christentums, das Geheimnis der Freiheit. Es
ist eine außerordentliche Freiheit des Geistes, ein ungeheurer freier
Glaubensakt, eine freie Beseelung 'unsichtbarer Dinge' erforderlich, um in der
Knechtsgestalt Jesu seinen Gott zu erkennen" (37).