Der Gedanke der Anthropodizee 12
Wenn wir das von Berdjajew
beschriebene Erlebnis einer Art von mystischen Initiations- und
Wandlungserfahrung in den Kontext einer mystischen Anthropologie einordnen
wollen, die dem beschriebenen Phänomen sachlich gerecht wird, so legt es sich
nahe, die diesbezüglichen Ausführungen des Jung-Schülers Erich Neumann
heranzuziehen. Der Autor konstatiert, dass im mystischen Begegnungsgeschehen
zwischen Ich und Nicht-Ich eine Veränderung stattfindet, wobei beide Pole eine
Wandlung erfahren, da "die Abgrenzung zwischen ihnen von beiden Seiten
aufgelöst wird". Lassen wir um der ausgesprochenen Präzision und Klarheit
der Gedanken den Autor, der Berdjajews Anliegen außerordentlich nahe kommt, zu
Wort kommen: "Die Epiphanie des bis dahin Verborgenen ist nicht nur auf
das Vorhandensein eines Ich angewiesen, dem es erscheinen kann, sondern mehr
noch auf den Akt der Zuwendung und Hinwendung dieses Ich, auf seine Fähigkeit,
sich ergreifen zu lassen und auf seine Bereitschaft, das zu sehen, was
erscheinen will. Die Menschheit ist der Partner des Numinosen, denn nur und
gerade in der Menschheit kann sich die numinose Epiphanie entfalten. Der
Entwicklungsgeschichte der Menschheit zugeordnet ist eine
Entwicklungsgeschichte der Erscheinungsformen des Numinosen, das – analog zur
Menschheit – aus der anonymen Unbewusstheit und Ungeformtheit heraustritt und
als Numen und als Gestalt sichtbar wird im Wandel der Formen. Umgekehrt ist das
menschliche Bewusstsein angewiesen auf die Spontaneität des Numinosen. Beide
Angewiesenheiten werden innerhalb dessen ausgetragen, was wir menschliche
Persönlichkeit nennen. In diesem Sinne hat das transpersonale Numinose seinen
Ort im Menschen und nur in ihm, als dem Ort der mystischen Begegnung von Ich
und Nicht-Ich. Die Realität dieser Begegnung gehört zu den Grundgegebenheiten
des menschlichen Daseins, und wenn wir den Prozess dieser Begegnung und
Verwandlung von Ich und Nicht-Ich als mystisch bezeichnet haben, dann ist die
mystische Kategorie eine Grundkategorie menschlicher Erfahrungsweisen.
Die Wandlung der
Persönlichkeit durch das Auftreten des Numen löst das Ich aus seinem alten
Bewusstseinssystem ebenso wie aus seiner alten Bezogenheit zur Welt, aber der
Preis für die Verbindung mit dem unbekannten Numen, das die Möglichkeit des
Schöpferischen in sich schließt, ist die Aufgabe der Sicherheit, welche die
Bewusstseinsorientierung bietet, und das Eintreten in die grundsätzliche
Paradoxie des Mystischen. Es handelt sich bei der mystischen Begegnung mit dem
Nicht-Ich für das Ich immer um eine Grenzerfahrung, denn das erfahrende Ich
bewegt sich jedes Mal auf etwas hin, das außerhalb seines Bewusstseins und
seiner rational aussagbaren Welt liegt. Dieser außerhalb des Bewusstseins
liegende Ort ist zwar von der durch ihn veränderten Gesamt-Persönlichkeit her
gesehen der schöpferische Punkt par excellence, vom Bewusstsein her gesehen
aber ist er der Punkt des Nichts. Dieser schöpferische Punkt des Nichts im Menschen
ist der Tempel und Temenos, die Quelle und das Paradies, er ist, wie es in der
kanaanitischen Mythologie heißt, der Mittelpunkt, wo El, der große Gott sitzt,
'an dem Ursprung der Ströme, in der Mitte der Quelle der zwei Meere' […]. Diese
Erfahrung vom schöpferischen Nichts im Menschen ist die Ursprungserfahrung,
welche zur Projektion des Bildes einer Schöpfung aus dem Nichts geführt hat,
die ja nicht nur die jüdisch-christliche Theologie lehrt, sondern die in jeder
mystischen und schöpferischen Erfahrung lebendig erneuert wird. Der Punkt des
schöpferischen Nichts steht im Zentrum der mystischen Anthropologie als Teil
einer Tiefenpsychologie, die mit dem Wesen des schöpferischen Prozesses
beschäftigt ist, er steht gleichzeitig aber im Zentrum aller mystischen
Erfahrung, die um das Verborgensein der Gottheit kreist. In diesem Kern des
Geschehens, der als solcher unbekannt ist, aber als die tiefste Quelle des
schöpferischen Lebens vom Menschen erfahren wird, erfährt sich der Mensch
selber als mystisch" (59).
Wenn also N.Berdjajew davon
spricht, dass sich Gott nach dem Menschen sehnt, um sich durch
ihn und in ihm zu offenbaren, ja gleichsam selbst durch die Menschwerdung
eine inkarnatorische Wandlung zu erfahren, so werden damit nicht nur Gedanken
des deutschen Idealismus (Hegel) aufgenommen, sondern die philosophische
Deutung Berdjajews erfährt von ganz anderer Seite her – nämlich aus der
Richtung einer von E.Neumann entwickelten mystischen Anthropologie – Ergänzung
und Bestätigung. Die Menschheitsentwicklung ist – wie Neumann zeigt –
"angewiesen auf das mystische Phänomen, den schöpferischen Prozeß der
verwandelnden Begegnung von Ich mit dem Nicht-Ich. Die Synthese dieser
doppelten Bewegung ist die Zuordnung der Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins
zu der Entwicklungsgeschichte der Erscheinungsformen des Numinosen"
(a.a.O., S. 155).
Da die Begegnung mit dem
Numinosen stets die starren Schranken und Konventionen des bisher Gedachten als
Wandlungsphänomen zerbricht und sich gerade deshalb auch im Sinne Berdjajews
(Dritte Offenbarung des Geistes im Menschen) eine Neu-Offenbarung
vollzieht, "kommt das davon erfasste Ich notwendigerweise in einen
Gegensatz zum Dogma des herrschenden Bewusstseins und dessen Instanzen. Die
schöpferisch-mystische Erfahrung steht ihrem Wesen nach in Opposition zu der
herrschenden Moral des Kulturgewissens, zu der herrschenden Religion und zu den
beherrschenden Bewusstseins-Inhalten des Kulturkanons […]. Die echte
Grunderfahrung des Numinosen kann nicht anders sein als anti-konventionell,
anti-kollektiv und anti-dogmatisch, denn sie ist die Neu-Erfahrung des
Numinosen" (60).
N.Berdjajew gehörte
zweifellos zu den Denkern, die in dieser Form vom Numinosen berührt waren, wie
sein Selbst-Zeugnis unterstreicht. Auch für ihn gilt, was E.Neumann als das
Charakteristikum für viele Mystiker beschrieben hat, dass sie überall in der
Welt in die Einsamkeit getrieben wurden, da der anti-kollektive Charakter ihrer
Erfahrung dazu beitrug, dass sie zwar in dieser Welt lebten, dass sie aber das
Lebensgefühl hatten, "nicht von dieser Welt zu sein" [vgl. Joh 8,23].
Schon in der Einleitung zu
seiner Autobiographie brachte der russische Denker diese Gestimmtheit zum
Ausdruck: "Der Mensch ist auch ein differenziertes Wesen. Ich habe diese
meine 'Differenziertheit' immer gefühlt. Gewaltige Bedeutung kommt der ersten
Reaktion auf die Welt eines in ihr geborenen Wesens zu. Ich kann mich nicht an
meinen ersten Schrei erinnern, der durch die Begegnung mit der mir fremden Welt
ausgelöst wurde. Ich weiß jedoch auf das bestimmteste, dass ich von Anbeginn
mich als Kömmling empfand, der in eine ihm fremde Welt geriet. Das spürte ich
gleichermaßen am ersten Tage meines Lebens, wie ich es auch heute noch spüre.
Ich bin immer nur Pilger gewesen […]. Das Gefühl, mit der Erde verwurzelt zu
sein, war mir fremd" (61).
Zu
§ 14-16
Im § 14 thematisiert
Berdjajew die Askese als den Weg der mystischen Erfahrung, sieht in ihr
freilich nur eine Technik und eine formale Methodologie. Ohne die Askese ist
die Ausübung des Glaubensweges im frühen Mönchtum kaum denkbar. Sie findet
"ihre erste Begründung im Evangelium, denn das Wort der Heiligen Schrift
war für eine asketische Deutung durchaus offen […]. Dass die Askese kein
Selbstzweck ist, zeigt ihr wahres Ziel, nämlich die Reinheit des Herzens. Auf
den Weg der Demut und der Reinheit des Herzens findet der Mönch in der
Begegnung und im Austausch mit dem geistlichen Vater. Im Institut der
geistlichen Vaterschaft wird nochmals deutlich, dass die frühen Mönchsväter die
Inhalte spätantiker Askese insofern weit hinter sich lassen, als sie ihr
Mönchsleben ganz aus der Botschaft Jesu deuten" (62). Von Interesse mag es
auch für das interreligiöse Gespräch sein, dass Berdjajew die mystische Praxis
des Yoga mit der christlichen Askese vergleicht: "Hier wie dort haben wir
eine Askese [Übung], eine Konzentration, einen Sieg über die Leidenschaften,
eine Überwindung dieser 'Welt' und ein Schauen einer anderen Welt. Die Askese
ist einer von den ewigen Wegen der religiösen Erfahrung". Dennoch stellt
sich dem Autor, der die Askese an anderen Stellen – etwa in "Geist und
Wirklichkeit" (S. 78-105) – mit Argwohn betrachtet, die Frage: "Gibt
es einen anderen religiösen Weg, eine andere religiöse Erfahrung – die
Erfahrung der schöpferischen Ekstase? Die Erfahrung der schöpferischen Ekstase
als religiöser Weg ist im kirchenväterlichen Bewusstsein und im Bewusstsein der
alten Mystiker noch nicht enthüllt. Die schöpferische Erfahrung, die
schöpferische Ekstase wird vom religiösen Bewusstsein entweder als etwas 'Weltliches'
und Leidenschaftliches völlig verworfen oder bestenfalls gestattet und erkauft.
Das religiöse Bewusstsein erblickte bisher im Schaffen kein 'geistliches' Tun,
sondern ein 'weltliches'. Im besten Falle rechtfertigte das religiöse
Bewusstsein das Schaffen" (63). Insofern könnte die Behauptung, dass die
schöpferische Erfahrung religiöse Erfahrung und religiöser Weg sei, "frech
und gottlos" erscheinen. Dennoch stellt Berdjajew sehr selbstbewusst
beides als gleichwertig nebeneinander: "Das Schaffen ist nicht weniger
geistig und nicht weniger religiös als die Askese" (a.a.O., S. 287).
Dennoch war zu gewissen Zeiten das religiöse Bewusstsein vom Sinn des Schaffens
noch nicht vorhanden. Vielleicht ist erst das 21. Jahrhundert dazu bereit und
in der Lage, so etwas wie eine "Schöpfungsspiritualität" (M.Fox) im
Sinne Berdjajews zuzulassen. Sie ist dringend nötiger denn je!
Wenn das Schaffen eine
Überwindung der "Welt" ist, so fühlt sich der Schaffende als der vom
Geist Inspirierte nicht von dieser Welt und tritt im schöpferischen Akt
aus "dieser Welt" heraus "und geht in eine andere Welt
über". "In dem schöpferischen Akt wird eine andere Welt erschaffen.
Das Schaffen ist keine Anpassung an diese Welt, an die Notwendigkeit dieser
Welt, – das Schaffen ist ein Überschreiten der Grenzen dieser Welt und eine
Überwindung ihrer Notwendigkeit. Das Gebot des Evangeliums, die 'Welt' nicht zu
lieben und die 'Welt' zu besiegen, bleibt auf ewig in Kraft. Denn die 'Welt'
nicht lieben, heißt frei sein und seine Kindschaft zu Gott an den Tag legen,
der 'Welt' anhängen, heißt dagegen, Sklave der Notwendigkeit sein. Der
schöpferische Akt ist ein Sich-Entfernen von der 'Welt'. Das Schaffen ist ein
Lösen von Ketten. In der schöpferischen Ekstase wird die Schwere der Welt
besiegt; die Sünde verbrennt, und eine andere höhere Natur scheint durch"
(64).
So sieht Berdjajew im
schöpferischen Akt, der in Bezug auf die Welt transzendent ist, ein
Heraustreten aus der "Welt" und er kann – hier ein wenig
widersprüchlich und dennoch konsequent – sagen: "Darin, dass das
christliche Bewusstsein die 'Welt' asketisch verneint (im evangelischen Sinn
des Wortes) liegt die ewige Wahrheit des Christentums. Im historischen
Christentum war das schöpferische Geheimnis des Kosmos noch nicht offenbart, aber
es war in ihm viel von der 'Welt'". So kann folgerichtig zwischen Schaffen
und Askese kein Widerspruch konstruiert werden: "Darum liegt die
Offenbarung des Schaffens außerhalb der evangelischen Negation der 'Welt'. Das
Schaffen setzt die asketische Überwindung der 'Welt' voraus. Das Schaffen setzt
die Verarmung der 'Welt' voraus, und die evangelische Armut ist der Weg zu
einem neuen Schaffen" (65).
Im § 16 wendet sich Berdjajew
der Thematik der Buße zu. Wir greifen die für unseren Zusammenhang wichtigsten
Gedanken heraus, die darin konzentriert sind, dass der Denker die Buße nicht
als ein spirituelles Instrument sieht, das in die Verzweiflung führt, sondern
dass – wenn der Mensch geistig stirbt – der Wert der Buße in der Geburt zu
einem neuen Leben liegt. Die Buße muss, indem sie im Menschen eine letzte
Verdichtung und Konzentration von Dunkelheit auslöst, überwunden werden:
"Und es bleibt nur der eine Weg der Rettung vom geistigen Tode, von der
eigenen sich manifestierenden Finsternis – der Weg einer schöpferischen
Erschütterung des Geistes. Geheimnisvoll und wunderbar verwandelt sich die Buße
[im Sinne der Umkehr] in eine schöpferische Erhebung und belebt den erstorbenen
und erlöschenden Geist, seine schöpferischen Kräfte werden befreit. Das
Schaffen kann die Buße nicht ersetzen. Der Weg der Buße ist unvermeidlich […],
aber die schöpferische Ekstase und die schöpferische Erhebung sind die Geburt
zu einem neuen Leben" (66). So folgt auf die Umkehr also die geistige
Wiedergeburt als schöpferische Erhebung, wobei die "Welt" sowohl
asketisch als auch schöpferisch besiegt wird.
Wir haben im Zusammenhang der
Erörterung der Anthropodizee bei Berdjajew schon einmal den japanischen
Philosophen Keiji Nishitani (1900-1990) erwähnt. In einem seiner Hauptwerke
"Was ist Religion?" hat der Philosoph ebenfalls darüber Betrachtungen
angestellt, wie sich die "Erlösung" des Menschen im Modus einer
"Wiedergeburt" vollziehen kann, wenn der Mensch den "geistigen
Tod" im Sinne einer Buße bzw. Umkehr gestorben ist. Nishatini nennt diesen
Vorgang "Die Wiedergeburt ins Reine Land", die im Moment des
"geistigen Todes" sogleich und augenblicklich zuteil
wird. Da sich hier wenigstens im Modus der Annäherung bedeutsame Parallelen zu
Berdjajews Intuitionen des Schöpferischen ergeben, das sich im Moment der
Vernichtung und der Umkehr vollzieht, sei K.Nishitani zitiert. Er spricht von
jenem Augenblick, "in welchem sich das radikal Böse im Grund der
Subjektivität dem Selbstgewahren präsentiert. Wir haben auch gesagt, dass das
Nichts des Selbst zugleich mit jenem Gewahrwerden des Bösen realisiert wird und
durch dieses Sich-seiner-selbst-im-Nichts-Gewahrwerden zum Ort der Umkehr wird.
Wenn wir von der plötzlichen, unmittelbaren Erlangung der Wiedergeburt ins
Reine Land sprechen, muss auch dies ein Augenblick der Bekehrung sein. Ein
Augenblick jenes 'neuen Lebens durch Sterben' (vgl. 'stirb und werde'), ein
Augenblick, in dem absolute Negation und Affirmation eins sind" (67). Dass
dieses Ereignis von Negation und Affirmation, von Vernichtung und Erhaltung
gleichsam zusammenfällt, wird von Nishitani dahingehend interpretiert:
"Wir werden des radikal Bösen im tiefsten Grund unserer Existenz als einer
Realität gewahr, und zwar gleichsam 'in einem Nu', in einem Augenblick als
einem 'Atom der Ewigkeit in der Zeit', wie Kierkegaard sagt" (68).
In diesem Augenblick aber, wo
das "Ich bin" zu "Nichts" wird, wo also – nach Nishitani –
der "Große Zweifel" oder auch "Der Große Tod" eintritt,
"in diesem Augenblick ist das Selbst zugleich das Nichts des selbst, und
mit diesem Nichts tut sich die Ebene auf, auf der sich auf dem Großen Zweifel
eine völlige Umkehr ereignen kann […]. Und diese Realität, die aus dem Grund
des Großen Zweifels, den sie umkehrt, auftaucht, ist nicht anderes als unser
'ursprüngliches Antlitz', unser wahres und eigentliches Selbst" (69).
In dem von K.Nishitani
gedeuteten Sinne lassen sich auch Berdjajews Äußerungen noch besser verstehen,
wenn für ihn der Prozess der Umkehr dem "Großen Tod" des japanischen
Denkers zur Seite gestellt und interpretiert wird: "In der schöpferischen
Wiedergeburt verbrennt die Finsternis, welche in der Buße nicht verbrennen
konnte, und sie wird eingeäschert" (70).
Zu
§ 17-19
Hier wendet Berdjajew sich
den Fragen des religiösen Individualismus und der Problematik der anthropologischen
Fragen zu, wobei er am Beispiel herausragender Gestalten wie Alexander Puschkin
oder des hl. Serafim von Sarow die Gegenüberstellung von Heiligkeit und Genialität
in ein Entsprechungsverhältnis zu bringen sucht. Wir können Berdjajews ausführliche
Darlegungen hier nur im Spiegel einiger seiner Zitate wiedergeben, ohne uns
diesen genannten herausragenden Persönlichkeiten, die für das literarische und
religiöse Russland von besonderer Bedeutung gelangten, zuzuwenden. Wir halten
fest, dass im "Schaffen des Genies etwas vom Opfer seiner selbst enthalten
ist". Dieses Opfer artikuliert sich – auch bei dem Dichter – als ein
religiöses Außer-sich-sein und repräsentiert damit eine Heiligkeit, die dem
religiösen Tun eines Serafim von Sarow zur Seite gestellt werden kann.
"Ich habe den starken Glauben, dass nicht nur die Heiligkeit Serafims, die
seine Seele rettete, vor Gott wertvoll ist, sondern auch Puschkins Genialität,
die vor den Menschen seine Seele gleichsam verdarb. Der Weg der Genialität ist
auch ein religiöser Weg. Das Schaffen des Genius ist kein 'weltliches', sondern
ein 'geistliches' Tun" (71).
Von bemerkenswerter
Eindringlichkeit sind die sowohl auf den Dichter als auch auf den Heiligen und
auf jedes Genie bezogenen Gedanken: "Die Idee der Berufung ist ihrem Wesen
nach eine religiöse Idee, und die Erfüllung der Berufung ist eine religiöse
Pflicht. Wer seine Berufung nicht erfüllt, der vergräbt die Gaben in der Erde
[vgl. Mt 25,25], begeht eine schwere Sünde vor Gott. Zum Wege der Genialität ist
der Mensch ebenso erwählt und vorausbestimmt wie zum Wege der Heiligkeit. Es
gibt ein der Genialität Geweihtsein, wie es ein der Heiligkeit Geweihtsein gibt
[…]. Der schöpferische Weg des Genius fordert ein Opfer, kein geringeres Opfer
als der Weg der Heiligkeit. Auf dem Wege der schöpferischen Genialität muss man
sich von der 'Welt' lossagen, die 'Welt' besiegen. Die Genialität ist tragisch,
aber sie geht in die 'Welt' nicht ein und wird von der 'Welt' nicht angenommen.
Die Genialität ist ein geschlossenes Sein, eine universale Eigenschaft, eine
universale Wahrnehmung der Dinge, ein universaler Trieb zu einem anderen Sein.
Die Genialität ist eine Eigenschaft des Menschen, nicht nur des Künstlers, des
Gelehrten, des Denkers, des Politikers. Die Genialität ist die Entfaltung der
schöpferischen Natur des Menschen, seiner schöpferischen Bestimmung. Der der
Genialität Geweihte ist außerstande, sich in dieser Welt zu erhalten, besitzt
nicht die Fähigkeit, sich den Forderungen dieser Welt anzupassen […]. Die Potenz
der Genialität ist in der schöpferischen Natur des Menschen angelegt"
(72).
Im § 19 widmet sich Berdjajew
noch einmal der genannten Thematik der Genialität, zu der der Schöpfer
den jeweiligen Menschen vorausbestimmt hat. Der russische Denker sieht die Genialität
darin begründet, "dass diese zunächst einmal ein leidenschaftlicher Wille
zu einem anderen Sein ist". So entwickelt und vollzieht sich Genialität
als eine positive Entfaltung des Bildnisses und Ebenbildes Gottes im Menschen,
wobei die menschliche schöpferische Natur, die "nicht von dieser
Welt" ist, sondern in einer unerschaffenen Freiheit wurzelt, sich als
höchste Stufe einer höheren Erkenntnis vollzieht und sich als höhere Schönheit
und als das Geheimnis des Schaffens entfaltet. Berdjajew stellt die Heiligkeit
als eine Gabe der Gnosis dar, wobei diese Gabe auch dem wahren Dichter
zugefallen ist. Berdjajew unterscheidet die Gaben der Gnosis [Erkenntnis] eines
Jakob Böhme und eines Leibniz von denen des hl. Franziskus; er qualifiziert die
dichterische Gabe Puschkins oder Gogols höher als die des hl. Serafim:
"Nicht-Heilige und Nicht-Vollkommene können eine größere Gabe der
Erkenntnis und der Schönheit besitzen als Heilige und Vollkommene"
(a.a.O., S. 297).
Beschließen wir diesen
Abschnitt mit einem zusammenfassenden Zitat: "In der Genialität aber
erschließt sich das schöpferische Mysterium des Seins, d.h. die 'andere Welt'.
Schöpfertum und Genialität aber stehen in einem tiefen und geheimnisvollen
Zusammenhang mit dem Geschlecht, und dieser Zusammenhang muss religiös erfasst
werden" (73).