Berdjajews Vorfahren 3
Berdjajews
Vater liebte das Reisen und besuchte häufig Westeuropa. Er war im Gegensatz zu
vielen vom Adel, die sich vom Militärdienst zurückgezogen hatten, ein Mann mit
beträchtlicher Kultur und Bildung. Er war sehr von Voltaire beeinflusst, und
wie viele andere russischen Intellektuelle näherte er sich allmählich einer
neuen Weltsicht. Er brach mit alten Traditionen und kritisierte die Monarchie,
was ihm den Konflikt mit seiner gesellschaftlichen Umgebung einbrachte. Er gehörte
zur kleinen Minderheit des Landadels, die Reformgesetze für die Bauern
verlangten. Er war stolz auf seine Vorfahren und wurde nicht müde darin, seinem
Sohn Ereignisse von der militärischen Tüchtigkeit seines Vaters und Großvaters
zu erzählen. Ebenso war es ihm wichtig, dass der Prinz Lopuchin-Demidoff aus
einer der ältesten Kiever Familien und Alexander Michailovichs Kamerad im
Regiment Nikolaj Berdjajews Taufpate war. Berdjajews Vater war ein enger Freund
des Gouverneur-Generals von Kiev und hatte solche engen Bekannten am St.
Petersburger Hof wie Prinz Kotchubey,17) Oberhofmeister des Zaren und den
Kommandanten des kaiserlichen Hofes, General Cherepin. Alexander Michailovich
hatte einen starken Willen und war sehr temperamentvoll. Als ein "Freidenker"
hatte er Gefallen an der bürgerlichen Religion und an der Kirche. Am Tisch las
er oft laut aus der Bibel vor und machte dazu sarkastische Bemerkungen, sodass
die Mutter drohte, den Tisch zu verlassen, wenn er damit nicht aufhörte.
Niemals bestrafte er seinen Sohn, und schließlich kam es bei einer Gelegenheit
zu einem sehr wichtigen Gespräch mit dem Sohn, in dessen Verlauf der Vater
weinte. Dies änderte viele Dinge im Leben des Sohnes. N.A.Berdjajew sagte, dass
die Liebe des Vaters zu ihm mit den Jahren wuchs, doch er versichert, dass,
während er gegenüber seinem Vater dankbar war und alle üblichen Sohnespflichten
erfüllte, er niemals wirklich fühlte, dass er zu einem der Elternteile gehörte.
Als die deutsche Invasion Polens im Jahre 1914 seines Vaters einzige
Einkommensquelle zum Versiegen brachte, brachte Berdjajew ihn – er war schon
ein Invalide – in sein Haus nach Moskau, wo er im Jahre 1916 starb.
Über
ihn gibt eine amtliche russische Quelle aus St. Petersburg (1901-1908) folgende
Auskunft: "Alexander Michailovich Berdjajew, ein Kavalier Garde-Offizier,
Sohn von Michail Nicolaevitch Berdjajew, geboren 1837, erzogen im Gesetz. Am
16. Juni 1856 zum Fähnrich befördert; am 13. Oktober 1856 aus familiären
Gründen aus dem Dienst als Leutnant entlassen. Im April 1859 heiratete er die
Prinzessin Alexandra Sergeevna (geboren 1838), Tochter des Hof-Kammerherrn
Prinz Kudasheff. Seinem Vater gehörten 960 Seelen in der Provinz Kiev, ein
unveräußerliches Gut in Polen und ein Gut in der Provinz Kaluga".18)
N.A.Berdjajews
Mutter – eine geborene Prinzessin Kudasheff (1838-1912) – hatte sich 1859 mit
Alexander Michailovich verheiratet. Sie verbrachte ihre Schuljahre in Paris,
sprach später stets französisch und lernte nie gut, russisch zu schreiben.
Jedes Jahr ging sie ins Ausland, entweder nach Vichy oder nach Karlsbad, und
machte einen Aufenthalt in Paris, um ihre Schwester zu besuchen. Sie liebte die
Stadt und bevorzugte das Stadtleben, was stets eine Quelle von
Familienstreitigkeiten war. Berdjajews Schwägerin, Eugenie Rapp sagte, dass das
Familiengut Obuchovo nahe bei Kiev auf Bestehen von N.A.Berdjajews Mutter
verkauft wurde. Sogar im religiösen Leben dachte sie mehr französisch als
russisch, obwohl sie orthodox getauft war. Sie liebte das Leben der
aristokratischen Gesellschaft, wozu beide Familien gehörten. "In ihrer
Jugend war sie als eine Schönheit bekannt, und Berdjajew sagte, dass sie mit
fünfzig noch sehr schön war. […] Nikolaj liebte seine Mutter in dem Sinne, dass
er die Schönheit liebte".19) Verschieden von ihrem Gatten, der in
Temperament und Charakter ein reiner Russe war, betonte sie ihre französische
Abstammung.
Zusammenfassung
"Welch
eine reiche und unterschiedliche Erbschaft gehörte zu Berdjajew: eine Mischung
von Nationalitäten – französisch, polnisch, litauisch und russisch, eine
Vermischung von Rassen – weiß und gelb; auf der Seite seiner Mutter gab es kaum
einen Vorfahr ohne einen Titel, Graf oder Prinz oder sogar König (die Choiseuls
waren von Louis VI. von Frankreich herstammend), und die ganze Berdjajew-Linie
war von nichtbetiteltem Adel. Angeborene Aristokratie, ererbter Mystizismus,
die besten Traditionen von militärischer Stärke und altem Rittertum,
Unabhängigkeit des Denkens meistens bis zum Punkt des Agnostizismus, alle diese
Charakteristika wurden vermischt, als im Jahre 1859 Alexander Michailovich
Berdjajew die schöne Prinzessin Alexandra Kudasheff heiratete. Berdjajew
fühlte, er konnte die meisten dieser angestammten Elemente in seiner eigenen
Persönlichkeit aufspüren".20) Dennoch konnte er häufig davon sprechen,
dass er stets in einer eigenen und besonderen Welt lebte, dass er niemals mit
seiner Umwelt verschmolz, "die mir stets als nicht zu mir gehörig
erschien. Ich trug ein ausgesprochenes Empfinden für meine Sonderart, für mein
Anderssein als die anderen in mir".21)
Insofern
hat man N.A.Berdjajew – vielleicht nicht zu Unrecht – stets eine Art von
"gnostischer Weltfremdheit" nachgesagt, die durch zahlreiche
Selbstzeugnisse in seinen Werken unterstrichen wird. Hier ein Beispiel solch
einer bezeichnenden Selbstbeschreibung: "Das Lebensempfinden, von dem ich
spreche, möchte ich als Lebensfremdheit, als eine Ablehnung der Gegebenheiten
der Welt, als Nicht-Verschmolzensein, Nicht-Verwurzeltsein in der Erde, als
krankhafte Abkehr vom Alltäglichen definieren. Man hat das oft meinen
'Individualismus' nennen wollen, doch halte ich diese Definition für unrichtig.
Ich trete nicht nur aus mir selber heraus, um an der Welt der Gedanken, sondern
auch an der sozialen Welt teilzunehmen. Der Mensch ist ein kompliziertes und
verwickeltes Wesen. Mein 'Ich' erlebt sich selbst als Kreuzung zweier Welten.
Hierbei wird 'diese Welt' nicht als die wirklich Seiende, nicht als die
urtümliche oder endgültige erlebt".22) "Nie habe ich mich mit dem
Vergänglichen, Zeitgebundenen, Verwesbaren, mit dem, was für einen kurzen
Augenblick besteht, abfinden können. Ich habe nie nach des Lebens glücklichen Augenblicken
haschen, habe sie nie erfahren können. Ich konnte mich damit nicht versöhnen,
dass dieser Augenblick sogleich vom nächsten verschlungen werde. Mit
außergewöhnlicher Schärfe und Kraft habe ich die furchtbare Krankheit der Zeit
erlebt. Abschied bedeutete für mich Qual, wie das Sterben, wie Trennung nicht
nur von Menschen, sondern auch von Dingen und Orten. Offensichtlich gehöre ich
dem religiösen Typus an, durch Sehnsucht nach Ewigkeit gezeichnet. 'Ich liebe
dich, o Ewigkeit', spricht Zarathustra. Dasselbe habe ich mir mein Leben lang
gesagt. Nichts sonst kann man lieben als nur die Ewigkeit, und mit keiner
anderen Liebe kann man sie lieben als mit ewiger Liebe. Gibt es keine Ewigkeit,
so gibt es überhaupt nichts. Der Augenblick ist nur dann vollwertig, wenn er
der Ewigkeit zugemessen ist, wenn er Ausgang aus der Zeit ist, wenn er, wie
Kierkegaard sagt, 'Atom der Ewigkeit', nicht aber der Zeit ist."23)
Anmerkungen
1) Donald A.Lowrie, A
Rebellious Prophet. A life of Nicolai Berdyaev, London 1960, S. 7ff. Zit. Lowrie.
2)
Dieses Buch ist in Paris in der Zeit von 1782-1822 in drei Bänden erschienen.
Zwei Abbildungen dieses Buches (mit Verfassernamen) mit antiken Altertümern
finden sich unter der Adresse: http://www.ulg.ac.be/libnet/cicb/cicb_parcours-2.htm.
Bei einer Abbildung eines antiken Portals findet sich die Bemerkung: "Die
Arbeit ist illustriert von den besten Künstlern der Zeit und hat ihrem Autor,
dem Botschafter Frankreichs beim türkischen Reich, die Tore zur ‚Académie des
Inscriptions’ eröffnet". Ebenso finden wir Hinweise auf drei Bücher der
Gattin des Grafen Choiseul-Gouffier. Sie schrieb die Romane "Barbe
Radziwil", einen weiteren Roman über die Jagellonen sowie das Buch "Le
nain politique" (Der politische Zwerg). Vgl. die Hinweise mit Bildmaterial
unter: http://www.textesrares.com/chois/choi00.htm.
3)
Die "Académie des Inscriptions et des Belles Lettres" hat zu ihrem
Ursprung einen kleinen Rat von Humanisten, Mitglieder der "Académie
française". Organisiert im Jahre 1701 nahm die königliche Akademie im
Jahre 1716 ihren Namen an. Nach einem Beschluss vom 11. Januar 1999 beträgt die
Anzahl der Akademiemitglieder zur Zeit 55. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts bis
in unsere Zeit widmet sich diese Akademie vor allem dem wissenschaftlichen
Studium von Denkmälern, Dokumenten, Sprachen und Kulturen der Zivilisationen
der Antike, des Mittelalters, des klassischen Zeitalters wie auch der
Orientwissenschaft.
4)
Die Académie française wurde im Jahre 1635 von Kardinal Richelieu gegründet. Zu
den ersten Aufgaben der Akademie gehörte die Ausarbeitung eines Wörterbuches
und einer Grammatik. Sehr rasch entwickelte sich die Académie française zu
einer Institution der übergreifenden Wissenschaften. Die Mitgliederzahl wurde
auf 40 Personen festgelegt. Unter ihnen sind Schriftsteller, Dichter,
Wissenschaftler, Politiker u.s.w., die einen wichtigen Beitrag für die Sprache
und Literatur geleistet haben. Aufgrund der Inschrift auf dem Siegel der
Akademie „À l’immortalité“ – für Unsterblichkeit – werden sie „die
Unsterblichen“ genannt.
5)
Abraham Hyacinthe Anquetil-Duperron (*1731 in Paris und dort 1805 verstorben)
war französischer Orientalist. Er studierte die persische Sprache und Religion
des alten Persien. Seine Übersetzung des Zend Avesta (1771) eröffnete
den Weg zu einer neuen Entdeckung des Orients. Er war ebenso Autor historischer
und geographischer Forschungen über Indien (Übersetzung der Upanishaden, der
eine Anthologie juristischer Texte und mehrerer historischer Studien voranging,
1786-1804). Im Jahre 1762 überließ er der königlichen Bibliothek eine Sammlung
von mehr als 150 persischen und indischen Manuskripten, die er im Laufe seiner
Reisen durch den Orient gesammelt hatte.
6)
Vgl. Lowrie, S. 8. Lord Elgin erhielt 1799 die Stelle des Botschafters in
Konstantinopel. Dies sah er als eine Chance an, alte Kunstwerke der Architektur
und der Skulptur Griechenlands nach England zu bringen. Zusammen mit seiner
Braut verließ Elgin 1799 England. Im Jahre 1800 wurde ein Team von Künstlern
und Malern von dem britischen Botschafter in Konstantinopel nach Athen
geschickt, um die dortigen Monumente zu zeichnen. Bald darauf – nach gewissen
Widerständen des Sultans – wurden die Skulpturen aus dem Tempel genommen und
von britischen Seeleuten nach England gebracht. So wurden Teile des
Parthenonfrieses und hunderte von Vasen abtransportiert. Im Jahre 1810 belud
Lord Elgin sein letztes Schiff mit griechischen Schätzen. Die ersten 65
Behälter mit Kunstschätzen kamen 1804 in London an. Nach langen Verhandlungen
zwischen Elgin und der britischen Regierung wurden die Marmorschätze im Jahre
1816 an die Regierung verkauft und im britischen Museum aufgestellt. Die von
Graf Choiseul-Gouffier ins Britische Museum überführte Skulptur ist der sog.
"Choiseul-Gouffier Apollo", eine Plastik mit einer Höhe von 1,78 m
bzw. 1,92 m. Das Herstellungsdatum ist unbekannt, es wird der frühen
klassischen Periode zugeordnet und entstand in der römischen Periode. Das
Material ist Marmor.
7)
Vgl. Lowrie, S. 8f.
8)
In "St. Petersburg um 1800", Recklinghausen 1990, S. 541, wird
vermerkt: "1797: Ernennung des Comte de Choiseul-Gouffier zum Präsidenten
der Kunstakademie (im Januar 1800 von Pavel I. wieder entlassen)".
9)
Jean-Étienne-Marie Portalis (1746-1807). Er wurde in Beausset (Provence) am 1.
April 1746 geboren, am Ende der Revolution wurde er inhaftiert. Er war Mitglied
der Académie française (gewählt im Jahre 1803 auf Sitz 25) und wurde deren
Präsident. Im Jahre 1804 wurde er Kultusminister und im gleichen Jahr
Innenminister, Graf des Reiches und Träger des Großen Kreuzes der Ehrenlegion.
Er war Philosoph, Redner und Rechtsgelehrter, er war nicht Mitglied des
Instituts, aber die Organisation setzte ihn 1803 in die 2. Klasse, wo er den
Platz von Graf de Choiseul-Gouffier einnahm. Er nahm teil an der Redaktion des
Code Napoléon und des Konkordats und starb am 25. August 1807.
10)
Pierre Laujon (1727-1811) wurde am 13. Januar 1727 in Paris geboren. Er war
Sekretär des Kabinetts und der Kommandos des Grafen von Chermont, danach des
Herzogs von Bourbon. Er ersetzte Gentil Bernard als Generalsekretär der
Dragoner, was ihm 20000 Pfund Pension einbrachte. Im Jahre 1776 war er Kandidat
der Akademie. Er wurde am 7. Oktober 1807 gewählt, indem er Jean-Étienne
Portalis ersetzte und am 24. November von Bernardin Saint-Pierre aufgenommen
wurde. Er war schon fast 81 Jahre. Er starb am 13. Juli 1811.
11)
Alexander Vasiljewich Suvorov (1729-1800), russischer Feldmarschall. Im Jahre
1794 befehligte Suvorov die russische Armee, die die polnische Revolte nach der
zweiten Teilung Polens durch Russland und Preußen unterdrückte. In einer
raschen Schlacht mit ihrem Höhepunkt im Kampf von Prag und der Eroberung
Warschaus schlug er den polnischen Widerstand nieder. Suvorovs Ruf erreichte
seinen Höhepunkt in den französischen Revolutionskriegen von 1798-99, in denen
er österreichisch-russische Truppen gegen die Armeen der französischen Republik
anführte.
12)
Lowrie, S. 10f. Über Berdjajews Mutter vgl. Lowrie, S. 17ff.
13) Vgl. Lowrie, S. 11ff.
14) Lowrie, S. 11f.
15)
N.Berdjajew, Selbsterkenntnis, Darmstadt 1953, S. 19. Zit. Selbsterkenntnis.
16)
Lowrie, S. 21.
17)
In "Selbsterkenntnis" sagt Berdjajew: "Als Kind wusste ich, dass
meine Eltern mit der Oberhofmeisterin, Fürstin Kotschubej, befreundet waren;
diese hatte einen großen Einfluss auf Alexander III." (S. 16).
18)
Lowrie, S. 290, A. 1 zu Kap. 3
19)
Lowrie, S. 17.
20)
Lowrie, S. 13.
21)
Selbsterkenntnis, S. 32.
22)
Selbsterkenntnis, S. 34.
23)
Selbsterkenntnis, S. 43f.